Recklinghausen Ruhrfestspiele mit E. T. A. Hoffmann eröffnet: Auge in Auge mit der Angst

Robert Wilson eröffnet die Ruhrfestspiele mit einem grandios gruseligen „Sandmann“. Ab 20. Mai ist das Stück in Düsseldorf zu sehen.

Foto: Lucie Jansch

Recklinghausen. Hunderte Augen blicken starr ins Publikum. Die Rückwand ist übersät mit ihnen. Es herrscht schwarze Nacht, nur die maskenhaft weiß geschminkten Gesichter der drei Männer auf der Bühne geben einen gruseligen Widerschein des Lichts. Mit verzerrter Grimasse liegt Nathanael am Boden, sein Vater blickt fanatisch in die lodernde Flamme seines geheimen Laboratoriums und der geisterhafte Besucher Coppelius greift geifernd nach dem Jungen: „Nun haben wir Augen, Augen, ein schön Paar Kinderaugen.“

Dieser Moment der Misshandlung und der Angst spielt sich vor aller Augen ab. Er wird lebenslange Spuren auf Nathanaels Seele hinterlassen. Regisseur Robert Wilson zeigt diese Schlüssel-Szene aus E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ wie ein surreales Gemälde: Jede Lichtstimmung, jede Bewegung und jedes gesungene oder gesprochene Wort ist elementarer Teil seines Werks und bis ins Kleinste geplant und inszeniert.

Wie stark seine der Form verpflichteten Bühnenwelten berühren und unterhalten können, hat der Altmeister zur Eröffnung der Ruhrfestspiele mit einer grandiosen Adaption dieser tiefgründigen Schauergeschichte von 1816 bewiesen: ein Horrortrip mit Humor und ein Blick in menschliche Untiefen. Mit stehenden Ovationen haben die Zuschauer am Mittwochabend Ensemble, Orchester und Wilson selbst, den 75-jährigen Bühnenmagier mit Weltruhm, gefeiert.

„Der Sandmann“ ist nicht nur für die Ruhrfestspiele ein gelungener Auftakt, auch dem Düsseldorfer Schauspielhaus als Koproduktionspartner ist damit ein Coup gelungen: Ab Samstag, 20. Mai, ist die Aufführung im Theater am Gründgens-Platz zu sehen, das zurzeit wegen Bauarbeiten im und vor allem um das Haus herum noch bis voraussichtlich Herbst nächsten Jahres geschlossen ist. Für dieses Projekt konnte der neue Intendant Wilfried Schulz eine Sondergenehmigung erwirken, und so steht „Der Sandmann“ in den kommenden Wochen regelmäßig auf dem Spielplan.

Dass diese bildgewaltige Bühnenarbeit nur in einem großen Haus ihre Wirkung entfalten kann, zeigt der zweieinhalbstündige Abend deutlich: Wilsons Imaginationen brauchen Raum. So kann sich ein riesiger hauchdünner weißer Vorhand bauschen wie eine alptraumhafte Wolkenwand, können die Gestalten in ihren historisch anmutenden Kostümen vor weißer Leinwand tanzen wie kleine Püppchen oder sich vor roter Leinwand in domestiziertem Furor duellieren.

Mit schwingenden Spiegeltüren lässt Wilson einen Ballsaal erscheinen, in dem sich Nathanael in seiner Vorstellung der Traumfrau Olimpia verliert, ohne zu merken, dass ihm eine Menschmaschine die Sinne betört, dass seine eigenen Sehnsüchte in ihr Gestalt annehmen.

Mit einem ebenso hilflosen wie geistesgestörten „hihihi“ kommentiert Nathanael sein Tun. Hauptdarsteller Christian Friedel beherrscht jeden Schritt und jeden Ton, er überzeugt in kleinen Details, wenn etwa dem selbstverliebten Dichter im Schreibwahn die Feder unter der Nase kitzelt, und besonders in den großen Auftritten wie im zartfühlenden Duett mit seiner Mutter, die Rosa Enskat mit herrlicher Komik verkörpert. Beide spielen und singen gleichermaßen überzeugen.

Die drei Frauen und sieben Männer des Düsseldorfer Ensembles bewegen sich perfekt abgestimmt in diesem gut funktionierenden Schauspiel-Räderwerk.

Eine weitere Hauptrolle übernimmt darin die Musik. Sie ist viel mehr als ein düster-poppiger Klangteppich für dieses Zusammenspiel von Wilson und dem Romantiker Hoffmann, dessen literarische Offenbarung des Inneren auf einen Seelenverwandten des 20. und 21. Jahrhunderts trifft. Die britische Singer-Songwriterin Anna Calvi hat die Songs des Abends eigens dafür geschrieben. Sie verbinden die einzelnen Szenen zu einem organischen Ganzen. Manchmal klingt es bei ihr wie bei Nick Cave, wenn es heißt: „When you cry to the moon, don’t get lost.“ Eine treffende Mahnung nach diesem tief- und feinsinnigen Abend.