Tanzhaus NRW: Tanz für Bürger und Babys
Vor zehn Jahren wurde das Tanzhaus NRW gegründet – und machte Furore.
Düsseldorf. Als das erste Tanzhaus Deutschlands vor zehn Jahren in einem früheren Straßenbahndepot am Düsseldorfer Hauptbahnhof eröffnete, rechnete niemand damit, dass es weltweit Vorbild werden würde. Ob Newcastle/England, Oslo/Norwegen, Nicosia/Zypern, Seoul/Korea oder Brasilien - das Düsseldorfer Modell ist überall Vorbild.
Herr Müller, bei der Einweihung des Tanzhauses NRW hatten Sie ein keckes Ziel: Sie wollten es gleichwertig neben Schauspielhaus und Opernhaus etablieren. Haben Sie das erreicht?
Müller: Ja. (Pause) Vielleicht noch nicht ganz im Bewusstsein der Bevölkerung und des Stadtrates, aber international hat sich das Tanzhaus hervorragend positioniert und entwickelt.
Mehr international als vor Ort?
Müller: Ein Tanzhaus auf der Ebene eines Opernhauses gab es bisher in Europa oder sonstwo in der Welt nicht. Wir haben als Vorreiter das durchgesetzt, was die anderen Künste längst haben: eigenes Haus, eigene Strukturen, unabhängiger Etat.
Wie hat sich die Zahl der Zuschauer entwickelt?
Müller: Das Haus ist rappelvoll. 2007 hatten wir 180000 Besucher bei einer Erhöhung von vier Prozent jährlich. Die Einnahmen haben sich seit 1998 mehr als verdoppelt, auf 3,5 Millionen Euro. Das Tanzhaus hat 3000 Seminarteilnehmer wöchentlich. Die Kurse platzen aus allen Nähten.
Auch als Produktionsort ist das Tanzhaus begehrt...
Müller: Wir haben zu wenig Platz für die Produktionen junger Compagnien. Derzeit sind wir jährlich an 16 Koproduktionen beteiligt, die nicht alle bei uns erarbeitet werden können. Es sind internationale Größen dabei wie der Tanzstar Akram Khan, der vor zehn Jahren als unbekannter Tänzer zu uns kam, oder wie der Düsseldorfer Künstler Raimund Hoghe, der auch bei uns anfing. In Deutschland sind wir im Kinder- und Jugendbereich führend. Eine Studie im Auftrag der Stadt Düsseldorf über das Interesse der Jugend an der Kunst hat jüngst ergeben, dass der Tanz für sie einen hohen Stellenwert hat. Düsseldorf ist für sie eine Tanzstadt - ein Erfolg für uns.
Das Tanzhaus unterscheidet sich von anderen Tanzzentren wie Pact Zollverein in Essen durch seine Breitenarbeit. Es ist internationale Bühne, aber auch Bildungswerk für Profis und Laien. Warum dieser Weg?
Müller: Eine bewusste künstlerische und kulturpolitische Entscheidung. Seit der vor 30 Jahren gegründeten Ur-Werkstatt beschäftigt uns die Frage: Wie können wir die Tanzkunst dem Bürger nahe bringen? Unser Weg ist es, ihn am Kunstprozess teilhaben zu lassen, durch Kurse, Diskussionen, Einführungen zu den Vorstellungen. Elitekunst zu zeigen, ist einfach. Die Stadt Düsseldorf tut gut daran, unser bürgernahes Kunstkonzept zu fördern, denn sie läuft Gefahr, eine Stadt der Museen zu werden, was ich nicht für zeitgemäß halte.
Kritiker bemängeln, dass Sie zu viele Stile bedienen - von Afro bis Step. Wäre weniger nicht mehr?
Müller: Diese Kritik geht mir täglich durch den Kopf, aber ich komme immer zum selben Ergebnis: Eine Einschränkung der Vielfalt bedeutet auch eine Einschränkung des Publikums. Jeder Bürger hat eine andere Seele und einen anderen Zugang zur Kunst. Wir haben den politischen Auftrag, die Vielfalt der zeitgenössischen Tanzkunst zu vermitteln. Die Stile aus aller Welt nehmen wir ernst und präsentieren sie in ihrer zeitgenössischen Form. Wir waren die ersten, die Hiphop in Deutschland auf die Bühne brachten. Es ist Jugendkultur und definitiv Kunst.
Wie erklären Sie sich den Tanzhaus-Boom?
Müller: Tanz hat sich in den vergangenen 30 Jahren als eigenständige Kunstform emanzipiert, als durch Pina Bausch die ästhetischen Schranken aufgebrochen und die Grenzen des Kunsttransfers gesprengt waren. Der tiefere Grund liegt in der neuen Dynamik der Gesellschaft, in der weltweite Vernetzung und Flugverbindungen Alltag geworden sind. Tanz ist die Kunst, Zeit und Raum neu zu interpretieren.
Welche Pläne haben Sie?
Müller: Ich möchte das kulturpolitische Verständnis für die vielseitige Tanzkunst stärken. Auch soll der Kinder- und Jugendbereich, derzeit mit 55 Produktionen im Jahr ein Drittel des Gesamtprogramms, qualitativ weiterentwickelt werden. Im Herbst richten wir erstmals ein Babyfestival aus.
Wie bitte?
Müller: Ja, in Verbindung von Mutter und Kind werden dem Baby in elementarer Form Bewegungen nahe gebracht, die für seine spezifischen Wahrnehmungsmöglichkeiten entwickelt wurden. Das Festival entstand mit Oslo. In Deutschland ist Kindertanz völlig unterentwickelt.