Halbzeit in Toronto: Kluge Köpfe und bewegende Schicksale
Toronto (dpa) - Eddie Redmayne hat die „Ice Bucket Challenge“ bereits hinter sich. Für den Physiker Stephen Hawking ließen sich Familienmitglieder mit Eiswasser überschütten, um Spenden für Betroffene der Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zu sammeln.
Hawking erhielt mit 21 Jahren die Diagnose ALS und sitzt seit Jahren im Rollstuhl. Bei der Weltpremiere von „A Brief History of Time“ floss am Sonntagabend (Ortszeit) zwar kein Eiswasser, die Lebensgeschichte von Hawking löste beim Filmfest in Toronto aber große Emotionen aus und wurde mit minutenlangen Ovationen bedacht. Um den britischen Hauptdarsteller Eddie Redmayne (32) schwirrten zudem die ersten vorsichtigen Oscar-Gerüchte durch den Saal.
Das Werk des britischen Regisseurs James Marsh zeichnet sich zur Halbzeit des 39. Toronto International Film Festivals als bisher stärkster Favorit der Zuschauer ab. Dank der sensiblen Darbietung Redmaynes driftet die Liebesgeschichte von Hawking und seiner Frau Jane (Felicity Jones) nie in Richtung Sentimentalität ab, sondern bleibt glaubwürdig und humorvoll.
Die Darstellung des körperlichen Verfalls durch ALS brachte Redmayne allerdings auch an seine Grenzen. „Aber wie groß meine Schmerzen am Ende des Tages auch waren - ich konnte nach den Dreharbeiten aufstehen und nach Hause laufen, ohne auf den Rollstuhl angewiesen zu sein“, sagte der Brite bei einer Pressekonferenz. „ALS-Kranke können das nicht.“ Besonders stolz sei er darauf, dass Stephen Hawking den Film gesehen und abgesegnet habe.
Kluge Denker und bewegende Schicksale stehen in diesem Jahr generell im Fokus des Filmfestes. In „Pawn Sacrifice“ verkörpert Tobey Maguire beispielsweise das problembeladene Schach-Genie Bobby Fischer, dessen Match gegen den Russen Boris Spassky 1972 die Welt in Atem hielt. Jennifer Aniston spielt in „Cake“ eine Frau, die nach einem schweren Unfall unter Depressionen und Angstzuständen leidet, eine Rolle fernab von Anistons sonstigen American-Sweetheart-Image. Auch Reese Witherspoon erntete mit „The Good Lie“ für ihre Darstellung einer engagierten Frau, die sich für vier sudanesische Flüchtlinge einsetzt, Lob von Publikum und Kritikern.
Mit Spannung wurde zudem die Weltpremiere von „The Imitation Game“ erwartet, dem Drama über Mathematiker Alan Turing, der den Enigma-Code der Deutschen im Zweiten Weltkrieg knackte und die Basis für Computer schuf. Benedict Cumberbatch ist in der Rolle des schwierigen Genies zu sehen, der nach dem Krieg in England wegen seiner Homosexualität verurteilt wurde und später Selbstmord beging.
Der deutsche Film kann nach mehreren Weltpremieren bereits auf ein erfolgreiches Festival-Wochenende zurückblicken. Unter anderem war die junge deutsche Schauspielriege um Tom Schilling und Hannah Herzsprung mit dem Cyber-Thriller „Who Am I - No System Is Safe“ von Regisseur Baran bo Odar nach Kanada gereist.
Alexander Fehling überzeugte in Giulio Ricciarellis Aufarbeitung der Nazi-Gräultaten „Im Labyrinth des Schweigens“ als engagierter Anwalt, der die Auschwitz-Prozesse ins Rollen bringt. Fehling, der bereits zum dritten Mal in Toronto ist, schwärmte im Gespräch der Nachrichtenagentur dpa von der persönlichen und entspannten Atmosphäre des Filmfestes. „Man fühlt sich sofort wohl hier“, sagte Fehling.
Ähnlich begeistert war auch Christian Petzold, dessen Nachkriegsdrama „Phoenix“ mit Nina Hoss in der Hauptrolle in Toronto gezeigt wurde. „Ich bin zum ersten Mal hier und alle berichteten immer von der Lässigkeit und einer ganz besonderen Stimmung. Jetzt kann ich das alles bestätigen“, sagte Pezold der dpa. „Es ist tatsächlich ein energiegeladenes Publikumsfestival.“
In der kanadischen Metropole wählen anstelle einer Jury traditionell die Zuschauer den Gewinnerfilm, der am Sonntag verkündet wird. „Das Publikum ist herrlich euphorisch und geht begeistert mit“, sagte Petzold.