Guggenheim Museum: Im Kinderwagen zur Kunst
New York (dpa) - Zielsicher geht Jackie Delamatre auf ein Bild zu. „Das ist eines der bekanntesten Werke von Pablo Picasso“, sagt sie und zeichnet mit dem Finger den gebückten Rücken einer in Blautönen gemalten bügelnden Frau nach.
Einer von Delamatres Zuhörern steckt den Finger in den Mund und lutscht daran, ein anderer haut auf einen Ball aus Schaumstoff, ein dritter schreit laut - aber Delamatre lässt sich davon nicht irritieren. Die kleine Frau mit den dunkelbraunen, kringeligen Locken ist spezialisiert auf Kunstführungen für Babys und Kleinkinder. Mütter, Väter, Großeltern oder Kindermädchen dürfen natürlich auch dabei sein.
„Fühlt ihr euch manchmal auch so wie die Frau auf dem Bild? Völlig erschöpft und ausgelaugt?“, fragt Delamatre in die Runde. Acht Mütter und eine Großmutter nicken heftig. „Ja? Ich auch, nach einem ganzen Tag mit meinem kleinen Kind geht es mir ganz genau so. Kommt, wir gehen weiter zum nächsten Kunstwerk, das ich euch zeigen möchte.“ Neun Kinderwagen setzen sich in Bewegung und werden die berühmte schneckenhausförmige Rampe des New Yorker Guggenheim Museums hochgeschoben, bis Delamatre wieder stehenbleibt. „I can't work like this“ („So kann ich nicht arbeiten“) steht hinter ihr an der Wand, ein Kunstwerk aus Nägeln. „Und, kennt ihr das Gefühl?“ Eine Mutter reagiert sofort. „Na klar, wenn ich in meiner winzigen Wohnung versuche zu arbeiten, und Jack einfach nicht schlafen will.“
Delamatre hat selbst seit etwas mehr als einem Jahr eine Tochter und fühlte sich nach der Geburt zunächst ziemlich alleingelassen. „Es wird einfach nicht genug für die Zielgruppe getan.“ Schon vor ihrer Schwangerschaft hatte sie in verschiedenen New Yorker Museen Touren für Schüler organisiert. Gemeinsam mit einer Freundin kam ihr dann die Idee: „Stroller Tours“, also Kinderwagen-Touren, wollten sie anbieten. „So kommen die Mütter raus und unter Menschen, und die Kinder kommen ins Museum. Das kann man gar nicht früh genug machen, es ist ein tolles Erlebnis für die Kleinen. Und natürlich wollen wir die Zielgruppe auch für die Museen gewinnen.“
Seit Herbst bietet Delamatre „Stroller Tours“ unter anderem im Guggenheim Museum am New Yorker Central Park an. „Die Nachfrage war sofort riesig. Es gibt immer dreimal so viele Anmeldungen wie Plätze.“ Kinder-Führungen gibt es inzwischen in den meisten Museen weltweit, aber Touren für die Allerkleinsten sind noch vergleichsweise selten.
Sharon Vatsky, Chefin des Guggenheim-Bildungsprogramms in New York, war von der Idee sofort begeistert. „Ich erinnere mich an meine eigene Zeit als junge Mutter, man fühlt sich sehr isoliert, und da ist es schön, in ein Museum eingeladen zu werden.“ Die Führungen sieht Vatsky als „Möglichkeit für die Eltern, eine erwachsene Unterhaltung vor einem Kunstwerk zu haben, und als Möglichkeit für die Eltern und ihre Kinder, gemeinsam Zeit zu verbringen.“
Einige Dinge müssen bei den Kunst-Touren für die Kleinen aber beachtet werden: „Die Führungen sollten vor oder nach dem Mittagsschlaf stattfinden und am besten nicht gerade dann, wenn es hier im Museum immer besonders voll ist, denn die Kinderwagen brauchen viel Platz“, sagt Vatsky. Die Kunstwerke, die auf der Tour gezeigt werden, sollten entweder starke Kontraste haben oder sehr farbig sein, damit schon Babys darauf reagieren. Zerbrechliche Werke sollten dagegen eher ausgespart werden. „Ich habe aber noch keine Beschwerden von unseren Sicherheits-Leuten gehört.“
Um die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich zu ziehen, kennt Museumsführerin Jackie Delamatre einen einfachen Trick: Ein iPad, auf dem sie einen kurzen Film über Picasso zeigt. Sofort starren neun kleine Kinder gebannt auf die bewegten Bilder. „So ruhig werden sie während der ganzen Tour nicht mehr sein“, sagt Delamatre und lacht. „Aber das ist auch ok. In dieser Runde hier hat wirklich jeder Verständnis für ein schreiendes Kind.“
Und wieder zieht der Reigen der Kinderwagen los, ein weiteres Picasso-Bild steht noch auf dem Programm. Viele andere Besucher fangen an zu tuscheln, als der Kinderwagen-Treck vorbeizieht, oder winken den Babys strahlend zu. Delamatre bleibt stehen und verteilt Din-A4-Blätter an die Runde. „Das Bild darauf hat Picasso als Vorlage für das Werk genommen, das ihr vor euch an der Wand sehen könnt. Schaut euch beide Bilder an und erzählt eurem Kind, wo die Unterschiede liegen.“ Eifriges Gemurmel beginnt, nur der anderthalbjährige Jack hat anscheinend keine Lust auf die Aufgabe, schnappt sich das Papier, lutscht daran und zerknüllt es. „Das ist doch wunderbar!“, ruft Delamatre. „Er macht schon seine eigene Kunst.“