Meinung Das wertvolle Vermächtnis: Der Genscherismus

Das historische Gedächtnis erinnert sich selten gerecht daran, was große Gestalter wirklich aus dem Strom der Zeitgeschichte herausragen lässt. Das Bild Hans-Dietrich Genschers prägen ein Kleidungsstück, das sich sonst wohl nur in den Garderoben britischer Cricket-Spieler und deutscher Oberstudienräte findet, Karikaturen seiner XXL-Ohren und ein Balkon über einem Botschaftsgarten in Prag, auf dem er einen Satz von historischer Tragweite („Wir sind zu Ihnen gekommen.

Foto: Schwartz, Anna (as)

. .“) nicht zu Ende sprach.

Nichts davon ist falsch. Aber es sollte nicht überdecken, dass der maßgebliche außenpolitische Architekt der drei prägenden Jahrzehnte der alten Bundesrepublik auch nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 1992 ein kluger und weitsichtiger Interpret der Gegenwart blieb. In einem seiner letzten Zeitungsbeiträge vom November 2015 mahnte Genscher, über all den Gedenktagen rund um Mauerfall und deutsche Einheit den 21. November 1990 nicht zu vergessen, an dem 24 Staaten und die EU auf einem KSZE-Sondergipfel die „Charta von Paris“ verabschiedeten.

In der Präambel dieser Charta, die Genschers außenpolitisches Werk krönte, bekundeten die Staats- und Regierungschefs: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.“

Der „Genscherismus“ dieses Dokuments, deutsche Interessen nicht direkt zu vertreten, sondern redlich und orchestrierend auf die Institutionen der Völkergemeinschaft Einfluss zu nehmen, bleibt das wichtigste Vermächtnis Hans-Dietrich Genschers.

Im vergangenen November schrieb Genscher: „Deutschland war der Motor des KSZE-Prozesses, Deutschland sollte den Ehrgeiz haben, den Motor neu anzuwerfen. Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht beliebig oft zu wiederholen. Die Gefahr ist groß, dass dauerhaft verspielt wird, was vor 25 Jahren eingeleitet wurde.“

Und er wünschte seinem Vaterland, es möge sich „keine Blindheit gegenüber den Chancen unserer Zeit für einen neuen dauerhaften Frieden“ leisten. Seine Stimme fehlt schon jetzt.