„Bei mir hat Aufbruch vorher begonnen“

Michael Schlemminger-Fichtler ist Ex-Schulleiter der Peter-Ustinov-Gesamtschule — und Alt 68er.

Foto: Ralph Matzerath

Die 68er feiern Geburtstag. Herr Schlemminger-Fichtler, wo waren Sie vor 50 Jahren?

Schlemminger-Fichtler: Ich wohnte in Frankfurt und studierte ab 1966 an der Frankfurter Universität. Im Zentrum des studentischen Widerstands. Neben Berlin war die Mainmetropole Mittelpunkt der Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, die Notstandsgesetze, die Uneinheitlichkeit des Schulsystems und die starren Strukturen in Staat und Gesellschaft. Diese Proteste waren verbunden mit riesigen Demonstrationen, Hausbesetzungen, Sit-ins und Teach-ins, ausgehend und organisiert vom SDS und der außerparlamentarischen Opposition (Apo).

Also waren Sie mittendrin im Aufbruch?

Schlemminger-Fichtler: Ja. Aber bei mir hat der Aufbruch schon vorher begonnen. Ich bin Jahrgang 1944 und habe mit 14/15 Jahren die Auseinandersetzung mit meinem Vater gesucht. Ich wollte mit ihm über die Nazizeit reden. Aber er hat sich geweigert. Und in meiner Schule in Frankfurt, einem altehrwürdigen Gymnasium, das überwiegend von Kindern mit Akademikereltern besucht wurde, habe ich mich geweigert, mich von einem ehemaligen Nazi unterrichten zu lassen. Da wäre ich fast von der Schule geflogen. Ich war also schon früh aufmüpfig und galt an der Schule als Außenseiter. Das änderte sich an der Uni. Da bin ich plötzlich auf viele Gleichgesinnte gestoßen — wie etwa Joschka Fischer oder später Daniel Cohn-Bendit. Sein Satz „Auschwitz war die Folie, die unsere Gedanken quälte“ ist mir bis heute im Gedächtnis, weil er meiner politischen Stimmungslage und Überzeugung entsprach. So organisierten wir auch den Ungehorsam gegen die „Nazigeneration“.

Was heißt Gleichgesinnte?

Schlemminger-Fichtler: Wir waren uns einig, dass wir die verkrusteten staatlichen und bildungspolitischen Strukturen aufbrechen wollten, kämpften für eine Aufarbeitung der NS-Zeit und dafür, dass wichtige Positionen in Staat und Politik nicht länger von Menschen besetzt werden, die schon eine Karriere im Nationalsozialismus hinter sich hatten. Außerdem kritisierten wir angesichts der Groko (ab 1966), dass die demokratische Streitkultur abhandengekommen war. Und wir setzten uns für Chancengleichheit ein. Zu der Zeit machten 90 Prozent der Schüler lediglich einen Hauptschulabschluss. Nur sechs Prozent gingen aufs Gymnasium.

Und wie war das mit dem Studium?

Schlemminger-Fichtler: Na ja. Das war eigentlich wie eine Suche, die Suche nach einem sinnvollen Inhalt. Sechs Jahre lang habe ich studiert, zwischen den Versuchen, die Welt umzukrempeln. Ich habe wie die meisten anderen lange geschlafen nach den vielen, nächtelangen Diskussionen etwa im Frankfurter Jazzkeller. Früh raus musste nur, wer beim studentischen Schnelldienst einen Job gefunden hatte, um das Studium zu finanzieren. Da habe ich auch schon mal Äppelwoi serviert und bin Taxi gefahren.

Was ist geblieben von den politischen Ambitionen?

Schlemminger-Fichtler: Der Mord an Benno Ohnesorg 1967 spaltete die Studenten-Bewegung. Auf der einen Seite entstanden die Grünen, auf der anderen Seite die radikalen Gruppierungen wie die RAF und kommunistische Sprengel. Die „68er“ waren eigentlich 1968/69 zu Ende. Für mich war klar: Wenn ich etwas verändern wollte, dann ohne Gewalt, durch Überzeugung. Steinewerfen war nicht mein Ding. Aus heutiger Sicht ist es nicht richtig, die 68er in ihrer gesellschaftspolitischen Konsequenz hoch zu bewerten. Sie waren sicherlich ein Auslöser für gesellschaftliche Veränderungen. Aber die Bewegung selbst war räumlich und zeitlich doch recht begrenzt. Wer nicht in Frankfurt oder Berlin studierte, war eigentlich nicht in die aktiven Studentenproteste damals eingebunden.

Haben die 60er Jahre in ihrem persönlichen Leben Spuren hinterlassen?

Schlemminger-Fichtler: Nun ja. Zum Beispiel modetechnisch. Ich habe bis heute nur einen Anzug und zwei Krawatten. Die Haare habe ich nie ganz kurz getragen. Und ich war sehr froh darüber, dass ich in meinem Job als Schulleiter weiterhin in Jeans und Lederjacke zur Arbeit gehen konnte. Ich habe viel Menschenkenntnis gewonnen. Und die habe ich während meiner Tätigkeit an der Peter-Ustinov-Gesamtschule eingesetzt. Schließlich sollte jedes Kind die bestmögliche Ausbildung bekommen. Da musste ich flexibel reagieren — die einen unterstützen und anderen deutlich auf die Sprünge helfen. Dabei war ich nicht über die Maßen autoritär, sondern gerecht und konsequent. Darüber hinaus war es mir in all den Jahren ein Bedürfnis, jeweils in den neunten und zehnten Schuljahren Geschichte und Politik zu unterrichten, verbunden mit der Hoffnung, dass von meinen „Ehemaligen“ keine so unsäglichen Texte in den sozialen Medien geschrieben werden, wie dies heute an der Tagesordnung zu sein scheint.

Sie haben die Satirezeitschrift Pardon als Erinnerung aufbewahrt. . .

Schlemminger-Fichtler: Schon als Schüler bin ich in Frankfurt jeden Tag an der Redaktion vorbeigekommen. Den Mitbegründer Hans A. Nikel habe ich bei einigen Demonstrationen getroffen. Ich habe mir die Zeitschrift damals genussvoll reingezogen. Die Titanic ist dagegen nur ein Abklatsch. Das Pardon-Sonderheft über Lübke fand ich besonders gelungen. Es ist das einzige Relikt, das ich aus dieser Zeit aufbewahrt habe, außer ein paar Jazz-Platten. Jazz war damals unsere Musik der Stunde.