Tanztheater Tanz und Musik spiegeln das innere Sterben
Neueinstudierung von Pina Bauschs Stück „Orpheus und Eurydike“ zur gleichnamigen Oper von Gluck wird in der Oper Barmen gefeiert.
Der Blick in die menschliche Seele geschieht auf drei Wegen: Über nuancenreiche Klänge, die der Komponist schuf. Über Stimmen von großer Schönheit, die manchmal aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Und über Bewegung, die die Ästhetik klassischen Balletts atmet und doch weitergeht, unmittelbar spürbare Körpersprache ist. Michael Hofstetter nennt das ein perfektes Zusammentreffen der Choreografin Pina Bausch mit dem Komponisten Christoph Willibald Gluck. Ihre Tanzoper „Orpheus und Eurydike“ wird nach fast 30 Jahren wieder in Wuppertal aufgeführt. Der Intendant der Gluck Festspiele dirigiert als musikalischer Leiter im Orchestergraben des Barmer Opernhauses das Sinfonieorchester Wuppertal. Das aus nah und fern angereiste Publikum erlebte am Wochenende große, zeitlos schöne Kunst.
Orpheus und Eurydike sind das vielleicht tragischste Paar der europäischen Kulturgeschichte. Sinnbild der Sehnsucht nach der großen Liebe, nach dem unaussprechlichen Glück, wenn man es erfährt, Sinnbild grenzenlosen Leids, wenn das Glück zerbricht. Die Sage aus der griechischen Mythologie beginnt mit dem Tod Eurydikes, den ihr Mann, der Sänger und Dichter Orpheus, nicht akzeptiert. Er steigt in die Unterwelt hinab, um sie zurückzuholen, was ihm unter der Bedingung gewährt wird, dass er sich beim Aufstieg in die Oberwelt nicht zu Eurydike umschaut. Doch die Zweifel an der Liebe des jeweils anderen sind zu groß, Eurydike verschwindet wieder in der Unterwelt.
Pina Bausch setzt die Tragödie in eindringliche, symbolträchtige Szenen um, die immer wieder sakrale Bezüge haben. Bewegung spiegelt das innere Drama, das Sterben von Eurydike in Orpheus, sein Empfinden, Leiden und Scheitern. Auf direkte und ästhetische Art und Weise. Dominique Mercy tanzte 1975 bei der Uraufführung den Orpheus, seine erste Hauptrolle im Tanztheater, 2022 wirkt er im Probenteam von Josephine Ann Endicott mit, die damals die Eurydike war, durchleidet das ehemalige Ensemble-Mitglied Pau Aran Gimeno die inneren Höllen und begeistert mit hervorragenden, anspruchsvollen Soli. Auch die Gäste Daria Pavlenko als Eurydike und Emily Castelli als Amor und alle anderen, aus der Compagnie diesmal die Jungen, überzeugen. Sie präsentieren eine bald 50-jährige, prägnante wie wunderbare Choreografie auf ganz selbstverständliche Art.
Sie tun das nicht allein. Da ist zunächst die Gänsehaut-Musik Christian Willibald Glucks (1714 bis 1787). Hofstetter vergleicht die Kunst des Opernreformers, Gefühle wie Ängste, Unsicherheit oder die Nähe zum Tod in teilweise so zuvor noch nie gehörte Klangrede umzusetzen, mit heutiger Filmmusik. Einer Musik, „die ganz tief hineinhört und hineinleuchtet in seelische Befindlichkeiten“. Besonders reizvoll erweist sich die Idee Pina Bauschs, die Solo-Sänger auf die Bühne zu holen, weniger als Schatten, mehr als weitere Ausdrucksform der Gefühle und weitere Handlungsebene, die wunderbare Bilder ermöglicht, wenn der singende Orpheus niederkniet und die unwiederbringlich verlorene Tänzerin Eurydike in die Arme nimmt. Countertenor Valer Sabadus und Sopranistin Ralitsa Ralinova (vom Opernensemble) verstärken die tragischen Helden, wie diese es umgekehrt mit dem Gesang tun. Interessant ist auch die Idee, Orpheus‘ Stimme mit einem Countertenor zu besetzen, die dadurch eine andere, quasi überirdische Dimension erhält. Der Opernchor schließlich, der auf den Balkonen und damit erhoben und seitlich angeordnet auftritt, trägt als eindringliche Echokammer das wehmütig-schöne Musikerlebnis noch näher ans Publikum heran.
Vier Bilder zu den Themen Trauer, Gewalt, Frieden und Sterben
In vier Bilder mit vier Themen (Trauer, Gewalt, Frieden und Sterben) hat Pina Bausch ihre Übertragung des mythologischen Geschehens in den menschlichen Bereich eingeteilt, Orpheus mit der Liebe, Eurydike mit dem Tod und Amor mit der Jugend verknüpft. Rolf Borzik entwarf damals seine ersten eigenen Bühnenbilder für sie. Surreale, fein ausgestattete und ausgeleuchtete sowie sehr poetische Räume, die das Innenleben der Akteure spiegeln und einen eigenen ästhetischen Reiz entwickeln. Manchmal reichen ihm weiß bespannte Wände und Herbstlaub (viertes Bild), manchmal ein quer liegender kahler Baum (erstes Bild), um Vergänglichkeit, Kargheit und Verirrung auszudrücken. Im zweiten Bild verwandelt er mit Wollfäden, die an hohen, zu einer Mauer aufgestellten Holzstühlen und an den Tänzerinnen befestigt sind, die Bühne in ein Labyrinth. Hinzu nimmt er Kostüme, die aus meist uni schwarzen, weißen oder hautfarbenen, fließenden Stoffen bestehen, die die tastenden, schleppenden, irrenden Schritte der barfüßigen Wesen unterstreichen.
Das Publikum feiert eine wunderbare Inszenierung.