Akrobat balanciert über die Niagarafälle
Niagara Falls/New York (dpa) - Nik Wallenda, Urenkel eines deutschen Zirkusakrobaten, hat als erster Mensch die Niagarafälle an ihrer schönsten und gefährlichsten Stelle überquert.
Dort, wo die Wassermassen des Niagaraflusses 58 Meter in die Tiefe stürzen, balancierte der 33-Jährige in der Nacht zum Samstag vor den Augen der Welt auf einem dünnen Drahtseil in schwindelerregender Höhe über den Abgrund. Immerhin war er mit einem Gurt gesichert.
Niemand vor Wallenda hat sich je über diesen Teil des Naturwunders gewagt, die hufeisenförmigen Horseshoe Falls auf der kanadischen Seite. Mehr als hundert Jahre liegen zurück, seit die Behörden überhaupt einem Stunt zustimmten. Als bisher letzter spannte der 21-jährige James Hardy 1896 sein Seil, allerdings weiter flussabwärts an einer seichteren Stelle.
Wallenda träumte seit seiner Kindheit von dem Abenteuer. Zwei Jahre kämpfte er gegen die Mühlen der Bürokratie, bis er die Genehmigung der USA und Kanadas in der Tasche hatte. An seinem großen Tag wirkte er ruhig und gelassen, als er im Scheinwerferlicht auf die Plattform trat, unter sich rund hunderttausend Zuschauer. Fernsehkameras übertrugen auch das Gebet, das Wallenda noch kurz vor dem tollkühnen Akt im Kreis seiner Frau und der drei Kinder sprach.
Dann war es so weit. Verlegen lächelnd schnallte sich Wallenda den Sicherheitsgurt an, der ihm im Notfall das Leben retten soll. Der TV-Sender ABC hatte darauf bestanden. Er wollte seinen Zuschauern ein Happy End bieten, keinen Sturz in den Tod. Und ABC beteiligte sich an den Kosten von rund 1,3 Millionen Dollar (1,03 Millionen Euro), die der Akrobat sonst alleine hätte tragen müssen.
Seine Familie, die berühmten „Flying Wallendas“, arbeiten traditionell ohne Netz und doppelten Boden. Ihr Mut fordert aber auch immer wieder seinen Tribut. So starb Urgroßvater Karl, ein gebürtiger Magdeburger, 1978 bei einem Drahtseilakt in Puerto Rico. Ein Vierteljahrhundert später widmete ihm Urenkel Nik sein bisher größtes Wagnis: „Karl Wallenda, mein Held“, sagte er, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hat. Die nächste Mutprobe, die Überquerung des Grand Canyon, hat der Junior bereits ins Auge gefasst.
Mit leichter Verspätung setzte Nik den Fuß aufs Seil. Eine am Kopf befestigte Minikamera zeigte auf die knöchelhohen weichen Stiefel mit Wildledersohle, eine Handarbeit seiner Mutter, auch sie eine Akrobatin. Seine Balancierstange wog rund 20 Kilo und war an einem Gurt befestigt, der ihm um den Hals hing. Das Seil, nur fingerdick und schlüpfrig durch die Gischt, schwankte unter seinen Schritten. Von allen Seiten der Wind, unter ihm die Fluten.
Vater Terry ermunterte ihn. „Gut so, Nik“, sagte er über die Mobilfunkverbindung. „Ein unglaublicher Ausblick. Was für ein Segen. Es ist einfach atemberaubend“, erwiderte der Sohn. Auf halber Strecke, an der niedrigsten Stelle des Seils, hörte man den Akrobaten beten. Der Wind komme von allen Seiten. Er sei erschöpft, „geistig und körperlich“. Er fühle sich schwach, seine Hände würden taub.
Kurz vor dem Ziel kniete Wallenda auf dem Seil nieder, streckte einen Arm triumphierend in die Höhe und warf Handküsse in die Luft. Die Menschen unter ihm atmeten auf, klatschten und jubelten. Die letzten Schritte lief er auf dem Seil, der Familie entgegen. Als eine kanadische Grenzerin ihn um seine Ausweispapiere bat, holte der Akrobat seinen in Plastik verpackten US-Pass aus der Tasche. „Und was ist der Grund Ihrer Einreise?“ „Ich will Menschen in aller Welt inspirieren“, antwortete Wallenda. „Folgt Euren Träumen und gebt niemals auf!“.