Panorama Beschwerdechöre: Singend gegen Frust und Wut
Der Nachbar nervt, und die Bahn kommt mal wieder zu spät. Viele Menschen machen aus ihrem Ärger eine Kunst — im Beschwerdechor.
Dresden. Wenn der Rasenmäher zur Morgenstunde einen schönen Traum abrupt beendet oder die Bahn wieder Verspätung hat: Manche fluchen und schimpfen da, andere wandeln ihren Frust in eine schriftliche Beschwerde um.
Nur die wenigsten lächeln das Ungemach einfach weg. Seit ein paar Jahren gibt es eine weitere „Therapieform“ fürs Frustabladen. Sie heißt Beschwerdechor. Menschen aller Altersgruppen gehen dort mit ihrem Ärger harmonisch um.
Was vor Jahren wohl in Großbritannien und Finnland begann, hat mittlerweile auch in Deutschland Widerhall gefunden. Ob nun in Hildesheim, Lübeck oder Hamburg — Beschwerdechöre werden immer populärer.
Zum aktuellen „Nordwind“-Festival mit Kunst aus Skandinavien und dem Baltikum in mehreren deutschen Städten formieren sich solche Ensembles nun erstmals in Dresden und Berlin. In Dresden führt der argentinische Musiker Santiago Blaum gar ein mehrstimmiges Beschwerdewerk mit dem Chor auf — im Festspielhaus und auf belebten Plätzen in der Innenstadt.
„Ich habe in den letzten Jahren etwa 40 000 Beschwerden gehört.“
Oliver Kochta-Kalleinen, Gründer von elf Beschwerdechören
Der Dresdner Oliver Kochta-Kalleinen gehört mit seiner finnischen Frau Telervo zu den Pionieren von modernen Beschwerdechören. 2005 ging im britischen Birmingham sein erster Beschwerdechor „auf Sendung“. Per Youtube und Co. wurde ein Video davon ein Hit.
„Die Idee ist aus der finnischen Sprache geklaut. Valitus Kuoro heißt wörtlich übersetzt Beschwerdechor“, erzählt der 42 Jahre alte Künstler. Wenn Schüler dort über zu viele Hausaufgaben murren, sage der Lehrer schnell mal: „Ihr seid wie ein Beschwerdechor.“ Inzwischen haben die Kalleinens eine Anleitung zur Selbstgründung dieser Chöre entwickelt.
Das Meckern mit Niveau trägt Früchte. Ob nun in Buenos Aires, Hongkong, Jerusalem, Melbourne oder Tokio - vielerorts haben sich Beschwerdechöre aufgestellt, meist als temporäres Projekt. Elf Chöre haben Kochta-Kalleinen und seine Frau selbst ins Leben gerufen. Jetzt erwägen die Geburtshelfer der singenden Beschwerdebewegung einen Rückzug aus dem Geschäft. „Ich habe in den letzten Jahren etwa 40 000 Beschwerden gehört“, beschreibt Kochta-Kalleinen ein gewisses Sättigungsgefühl.
Über mangelnde Demokratie muss sich im Chor keiner beschweren. Im Fall des Dresdner Ensembles wurden aus 170 Vorschlägen gemeinsam ein paar Dutzend ausgewählt, die nun vorgetragen werden. „Luxuswohnungen für die reichen Rentner aus dem Westen“ werden angeprangert und Hundekot auf dem Elberadweg oder Knöllchen für die Falschparker. Auch Intimes bleibt nicht ausgespart. „Meine Partnerin ist so völlig inaktiv“, lautet die Klage aus der Männersektion des Chores. „Mein Freund will immer Sex“, beklagen die Frauen.
„Manche regen sich auf, anstatt lieber ihr Leben zu leben.“
Nina Dembski, Sängerin
Nichts Menschliches ist dem Beschwerdechor fremd. In Norwegen habe ein Bürgermeister als Chorist einmal geklagt, dass seine Amtskette zu schwer sei und ihm Rückenprobleme bereite, erzählt Kochta-Kalleinen.
Der Chor in Helsinki beschwerte sich darüber, dass Finnland im Eishockey so oft gegen Schweden verliert — mit Erfolg. Das nächste Spiel gewannen die Finnen. „Es geht ja gar nicht nur darum, sich zu beschweren. Vielen gefällt die Gemeinsamkeit — im Kollektiv ein Stück zusammen zu erarbeiten“, sagt der Gründungsvater.
Eine Studentin engagiert sich, weil sie gern wieder in einem Chor singen wollte. Mit Beschwerden hat sie eher nichts am Hut. „Manche regen sich auf, anstatt lieber ihr Leben zu leben“, sagt die 23-Jährige. Unlängst war sie in Guatemala und hat dort jede Menge freundliche Menschen erlebt. Seither ist sie überzeugt, dass dort wohl kaum jemals ein Beschwerdechor seine Stimme erheben wird.
Ganz anders in Deutschland. Als die Dresdner einen Auftritt im Hauptbahnhof beantragten und dafür von der Deutschen Bahn eine Ablehnung erhielten, haben sie erst mal eines gemacht — sich beschwert.