Der Grand Prix als Freak-Version eines EU-Gipfels
Düsseldorf (dpa) - Viele Deutsche sehen den Grand Prix mit seinen „twelve points, douze points“ als eine Art Realsatire oder denken dabei an die Parodie von Hape Kerkeling. Doch für viele Länder und ihre Delegationen ist der Wettbewerb eine hochseriöse Angelegenheit.
Das sieht man schon, wenn man das Pressezentrum neben der Düsseldorfer Arena zum ersten Mal betritt. Es gibt eine Taschen- und Personenkontrolle wie auf dem Flughafen und dann lange Tische mit Laptops und Bildschirmen wie bei einem EU-Gipfel.
Hunderte Journalisten tippen dort ihre Texte ein, fachsimpeln miteinander und stellen kritische Fragen bei den Pressekonferenzen. Da will dann zum Beispiel ein polnischer Reporter wissen, warum der Auftritt seines Landes als einziger ganz mies gefilmt worden sei. Das könne doch kein Zufall sein, zumal die Polen anschließend rausflogen: „Who is to blame?“ (Wer ist verantwortlich?)
Mehrere hundert Hardcore-Beobachter haben mittlerweile über 80 Einzelproben und an die 80 Pressekonferenzen verfolgt. Mit insektenkundlerischer Akribie lassen sie die Geschichte des Sängerkriegs Revue passieren. Dabei sprechen sie übrigens nie vom Grand Prix, denn dieser Name ist schon vor vielen Jahren abgeschafft worden, sie reden vom „ESC“. Schließlich sagt ja heute auch niemand mehr EG, sondern EU.
Lang nicht alle akkreditierten Journalisten sind nach Düsseldorf gekommen, weil das ihr Job ist. Sie verdienen dort kein Geld, sie zahlen drauf, aus reinem Spaß an der Freud. Manche opfern ihren Urlaub dafür. Oder sie suchen sich irgendeine Website und reisen dann als schreibender Journalist an. Für Christian Fahrenbach aus Stuttgart ist der Grand Prix „die fünfte Jahreszeit“. „Meine Freunde sagen mir immer, wenn ich ein Date habe: "Laber' sie nicht gleich wieder zu mit dem Grand-Prix-Zeug!"“
Der freie Radiojournalist Alistair Birch ist seit vielen Jahren mit dabei und reist dafür jedes Mal aus Australien an. „Wir sind ein Einwanderer-Land und haben unsere europäischen Wurzeln nicht vergessen“, erläutert er. Was für andere die Fußball-WM ist, ist für ihn der Grand Prix: „Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist der Abba-Sieg.“
Für kleinere Länder, die es bei der Fußball-EM nie in die Endrunde schaffen, besitzt der Grand Prix eine ganz besondere Bedeutung. „Vor allem im osteuropäischen Raum hat es einen unheimlichen Stellenwert“, erläutert Irving Wolther, der seine Doktorarbeit über den Grand Prix geschrieben hat. „Die können dann wenigstens einmal im Jahr sagen: "Hallo, wir sind auch noch da!"“
Was sich beim Grand Prix immer wieder beobachten lässt: Je schlechter es einem Land geht, desto nationaler fällt sein Lied aus. Das Paradebeispiel dafür ist dieses Jahr das überschuldete Griechenland. Dessen Beitrag ist stark folkloristisch geprägt und vermittelt die Botschaft, dass sich die Griechen nicht zugrunde richten lassen: „Den Kopf hoch erhoben“, heißt es im Text. Gerade auf deutschem Boden dürfte das seine Wirkung nicht verfehlen - hoffen die Griechen.
Der Spott der Westeuropäer gilt in diesem Jahr vor allem dem Titel „I Love Belarus“ (Ich liebe Weißrussland). Den habe wohl der Diktator Alexander Lukaschenko in Auftrag gegeben, witzeln die Journalisten. Doch Faktenschleuder Wolther sagt: „Vergleichende Studien haben ergeben, dass Weißrussland das Land mit dem geringsten Nationalbewusstsein ist. Der Titel soll dazu beitragen, eine nationale Identität überhaupt erst einmal aufzubauen.“
So könnte man den Grand Prix als Freak-Version eines EU-Gipfels betrachten. Wobei Wolther das wesentlich positiver formulieren würde: „Das hier schlägt jede Übertragung aus Brüssel um Längen.“