Diane-Arbus-Retrospektive in Berlin
Berlin (dpa) - Gaukler und Transvestiten, Nutten und Nudisten, Kleinwüchsige und Behinderte - mit ihren verstörenden Porträts von Menschen am Rande der Gesellschaft hat Diane Arbus Fotogeschichte geschrieben.
Ihr so schonungsloser wie liebevoller Blick machte die US-Amerikanerin zu einer der wichtigsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Der Berliner Martin-Gropius-Bau gibt jetzt in einer sorgsam kuratierten Ausstellung Einblick in das faszinierende Oeuvre dieser Frau. 1971 schnitt sie sich die Pulsadern auf - gerade 48 Jahre alt.
Rund 200 Schwarz-Weiß-Fotos sind in der Retrospektive zu sehen - neben berühmten Bildern wie den „Eineiigen Zwillingen“ (1967) und dem „Jungen Mann mit Lockenwicklern“ (1966) auch zahlreiche Aufnahmen, die bisher noch nie gezeigt wurden. „Die Gabe von Arbus ist, uns besonders vertraut scheinende Dinge in etwas Fremdes zu verwandeln und das Normale im Ungewöhnlichen aufzudecken“, sagte Kurator Jeff L. Rosenheim vom New Yorker Metropolitan Museum of Art der Nachrichtenagentur dpa vor der Eröffnung am Donnerstagabend.
Nach einer Art Themensammlung im ersten Raum sind die Bilder in loser chronologischer Reihenfolge angeordnet, weiß gerahmt und linear gehängt. Kein Text, keine Erläuterung wartet. Umso mehr können die Aufnahmen mit ihrer direkten Perspektive und den großen Schwarz-Weiß-Kontrasten durch sich selbst wirken.
Sie nehmen den Betrachter mit auf Arbus' Streifzüge durch New York - in Tanzclubs, Kinos, Zirkuszelte, Freaktreffs, Parks und private Schlafzimmer. „Wir wollten, dass die Ausstellungsbesucher den Bildern so unvoreingenommen begegnen können, wie die Fotografin ihren Sujets begegnet ist“, sagt Rosenheim. Arbus' Tochter Doon (67) sorgt im Museum bis zur letzten Minute für die richtige Inszenierung.
Ihre Mutter, Kind einer wohlhabenden russisch-jüdischen Geschäftsfamilie aus New York, hatte sich mit ihrem Mann nach dem Krieg zunächst als Modefotografin selbstständig gemacht. Doch die kommerzielle Arbeit im Studio wird ihr zu eng. Nach der Trennung von ihrem Mann beginnt sie mit Freunden, das „wirkliche“ Leben draußen zu erforschen.
Die Brüche zwischen dem Normalen und dem Anderssein, die Fragen nach der Identität werden ihr großes Thema. Selbst wenn sie die Schönen und Reichen auf ihre Platte bannt, wirken sie oft wie verloren in ihrer Welt. Norman Mailer sagte einmal: „Einer Arbus eine Kamera zu geben, ist, als ließe man ein Kind mit einer scharfen Handgranate spielen.“
Neil Selkirk, der im Nachlass der Kultfotografin seit 40 Jahren für die penibel ausgeklügelte Abzugstechnik verantwortlich ist, führt die Faszination des Werks auf die Ausstrahlung der Künstlerin zurück. „Sie war unglaublich interessiert an anderen Menschen. Die Kamera war ihre Eintrittskarte, um mit ihnen in Kontakt zu kommen.“ Dass man dem Werk auch die langjährigen schweren Depressionen der Fotografin ansehen könnte, findet Selkirk nicht. „Sie war ganz und gar nicht traurig. Diese Arbeit hat sie wirklich erfüllt.“
Für den Gropius-Bau ist die Retrospektive ein Glücksfall. „Diane Arbus stand schon ganz lange oben auf unserer Wunschliste“, sagt Museumsdirektor Gereon Sievernich. „Aber so ein Projekt kann man nur stemmen, wenn zwei oder drei Partner zusammenarbeiten.“
Das Metropolitan Museum, das seit 2007 den Arbus-Nachlass mit 7500 Filmrollen betreut, hat für die beiden biografischen Räume am Ende der Schau auch viel persönliches Material zur Verfügung gestellt. Zudem war das Fotomuseum Jeu de Paume in Paris beteiligt.
„Ich glaube wirklich, es gibt Dinge, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografiert hätte“, hat Arbus einmal gesagt. Nach der Ausstellung möchte man ihr das gern glauben.