Die Schultüte versüßt den Schulstart

Ein kleiner Familienbetrieb in Sachsen beliefert die Republik mit Schultüten. Vor etwa 200 Jahren wurde der Brauch geboren. Angesagt ist derzeit, was glitzert, lärmt — und kostet.

Düsseldorf. Die Maschine zischt. Klebstoff kleckst auf Druckbögen. Dreieckig ausgestanzt, wird die graue Pappe auf einer Kegelform zusammengeleimt und dann mit bunten Folien bezogen. Noch ein wenig Silberglitter auf die Außenhaut, ein bisschen Tüll als Dekoration — dann hält Juniorchefin Bettina Nestler die fertige Schultüte in der Hand. Modell „Mia and me“, dieses Jahr einer der Renner bei Nestler Feinkartonagen im Erzgebirge.

Bettina Nestler und ihre Mutter Ursula sind die ungekrönten Zuckertüten-Königinnen der Republik. Trägt irgendwo in Deutschland ein ABC-Schütze eine Schultüte nach Hause, hält er wahrscheinlich eine aus Sachsen in den Armen. Der kleine Familienbetrieb in Ehrenfriedersdorf ist bundesweit Marktführer und damit gleichzeitig weltweit wichtigster Hersteller von Schultüten. Wachstum durch Export ausgeschlossen: Außer in Deutschland und Österreich ist der Brauch so gut wie unbekannt.

Moderne Chip-Technik macht’s möglich: In vielen Tüten steckt Action. Es blinkt und glitzert. Pferde wiehern, Lokomotiven fauchen. Motorräder knattern, Polizei- und Feuerwehr-Sirenen heulen. „Die Zuckertüte ist heute Teil eines Events“, sagt Bettina Nestler. „Wie eine kleine Hochzeit“ werde die Einschulung mitunter gefeiert. Mit viel Tamtam — und bis zu zehn Tüten. Die größte kommt von den Eltern, kleinere Ableger schenken Tanten und Onkel, Omas, Opas und die Nachbarn.

Vier bis fünf Millionen Tüten landen insgesamt jährlich auf dem deutschen Markt, was einem Schnitt von sechs bis sieben Tüten pro Erstklässler entspricht.

Erich Kästner (1899 bis 1974) begnügte sich an seinem ersten Schultag noch mit einem Exemplar und war dennoch stolz wie ein „Zuckertütenfürst“. Der spätere Schriftsteller trug sein Glück vor sich her: „Sie war bunt wie hundert Ansichtspostkarten, schwer wie ein Kohleeimer und reichte mir bis zur Nasenspitze.“ Immer wieder musste der Knabe sie ächzend auf dem Pflaster absetzen. Die Mutter half. „Wir schwitzten wie die Möbelträger!“

Die typisch deutsche Tradition, den Start in die komplizierte Welt der Zahlen und Buchstaben zu versüßen, führt zurück ins Ostdeutschland des frühen 19. Jahrhunderts. Nach Sachsen, Thüringen, Schlesien und Böhmen. Ein eindeutiges Premieren-Datum existiert nicht. Um 1810 wird in Sachsen „kleinen Menschen der erste Abschied vom Elternhaus mit einer ,Zuggodühde’ versüßt“. Spätestens 1820 taucht sie in Dresden auf, 1836 in Leipzig.

Bettina Nestlers Vorfahren waren die ersten, die vor rund hundert Jahren Schultüten in Serie fertigten. Als Urgroßvater Carl August Nestler 1910 im sächsischen Wiesa die industrielle Produktion startete, hatte sich der Papp-Kegel noch längst nicht überall durchgesetzt.

Zu unterschiedlich waren die Auffassungen von Bildung in Stadt und Land. Das Bürgertum war am Schulbesuch seiner Kinder interessiert. In den ländlichen Gegenden wurde der Unterricht dagegen häufig als überflüssig angesehen: „Kinder gehören auf den Acker. Sie sollten bei der Ernte helfen“, räsonierte Christoph Tornée, Lehrer und Küster in der niedersächsischen Gemeinde Lilienthal.

Andere Lehrer sorgten sich um den sozialen Frieden: pädagogisch unmöglich! Form, Größe und Füllung entlarvten, welches Kind aus armen und welches aus reichen Verhältnissen stamme. So wurde zum Beispiel Altkanzler-Gattin Loki Schmidt in Hamburg einst ohne Tüte eingeschult.

Bis sich die Zuckertüte in ganz Deutschland durchsetzte, vergingen noch etliche Jahre. Ihr eigentlicher Siegeszug begann in den Städten: Ab 1915 eroberte sie Berlin. Der erste Beleg für Hamburg stammt aus dem Jahre 1919. In den westfälischen Raum gelangte sie dagegen erst in den 1950er Jahren. Davor waren die „i-Männchen“ mit Äpfeln oder Zuckerstuten abgespeist worden.

Heute gehört die Tüte zur Standardausrüstung fast aller Erstklässler. Doch: Sie variiert in Größe, Farbe und Form — und spaltet die Republik. Der Westen zieht im Vergleich zum Osten den Kürzeren. Die beliebtesten Modelle in den alten Bundesländern sind „nur“ 70 Zentimeter lang. Sie sind damit 15 Zentimeter kürzer als die Tüten in den neuen Bundesländern. Von Rostock bis Dresden messen die Favoriten 85 Zentimeter — und sind sechseckig statt rund.

Bis zu drei Millionen Schultüten verlassen jedes Jahr das Erzgebirge. Die ganze Tüterei nahe der tschechischen Grenze beschäftigt bis zu 70 Mitarbeiter, überwiegend Frauen. „Hier ist fast alles noch Handarbeit“, sagt Bettina Nestler.