Digitaler Umweg zu Gott

Immer mehr Gebete erreichen die Klagemauer über Twitter und Co. Ein Student bringt die Nachrichten aus aller Welt nach Jerusalem.

Jerusalem. Millionen von Menschen besuchen jedes Jahr die heiligste jüdische Stätte in Jerusalem, um ihre Gebete dort zu platzieren. In den Ritzen der Klagemauer stecken Tausende zusammengefalteter Zettelchen. Doch immer mehr Nachrichten werden auf digitalem Umweg an Gott gerichtet: per E-Mail, Twitter oder Smartphone-App. Die Rabbiner der Klagemauer bringen täglich Gebete zur Mauer, die ihnen per Mail oder mit einem Formular auf der Webseite der Klagemauer zugesandt worden sind.

Der israelische Student Alon Nir bietet seit zwei Jahren den kostenlosen Service „Tweet your Prayer“ an. Jeder kann ihm über den Kurznachrichtendienst Twitter Gebete in den höchstens erlaubten 140 Zeichen senden. „Ich möchte die Mauer so zugänglich wie möglich machen“, sagt der 27-Jährige aus Tel Aviv.

Im Sommer 2009 verfolgte er, wie sich die iranische Revolution über Twitter organisierte. Da erkannte er, dass der Dienst nicht nur eine Plattform für persönliche Nachrichten ist. „Ich fand es spannend, eine Verbindung zu schaffen, die niemand erwartet: hier die mehr als 2000 Jahre alte Mauer, dort die modernste Technik.“ Seitdem wird Nir von Gebeten aus aller Welt bombardiert — und bringt sie alle paar Tage nach Jerusalem an die Klagemauer.

Mit einer Kippa auf dem Kopf kniet der Israeli an der hohen Mauer aus Kalksteinquadern. Er öffnet eine Holzkiste mit etwa Tausend Röllchen, die wie Lose aussehen, und steckt sie in eine besonders tiefe Mauerritze. „Zweimal im Jahr wird die Mauer zwar geleert, aber es ist kaum möglich, sie hier wieder herauszubekommen.“

Etwa 100 bis 200 digitale Gebete erhält Nir jeden Tag — manche auf japanisch oder chinesisch. Bei 100 000 Nachrichten habe er aufgehört zu zählen. „Die meisten kommen aus den USA und Brasilien, aber auch aus England, Frankreich, Deutschland oder Israel selbst“, sagt er. Auch Christen, Muslime, Buddhisten oder Anhänger der japanischen Shinto-Religion hätten ihn schon über die digitale Technik kontaktiert.

Die meisten Gebete erhält Nir als Privatnachricht — diese liest er nicht, denn nach jüdischem Glauben sind die Zettel an der Klagemauer nur für Gott bestimmt. „Ich würde auch nicht wollen, dass Fremde meine Ängste und Wünsche erfahren.“ Eine Software durchsucht die Nachrichten aber nach Schlagwörtern — denn Obszönitäten oder antisemitische Hetze sollen keinen Platz in der Klagemauer finden.

Wie der 27-Jährige weiß, sind die Wünsche vielfältig. „Manche bitten um große Dinge wie Weltfrieden, Liebe oder Gesundheit.“ Vor Feiertagen oder bei Katastrophen wie in Fukushima steige die Zahl der Gebete sprungartig an.