Elie Wiesel: Schuld wird nicht vererbt, aber Verantwortung
New York (dpa) - Von draußen dröhnen der Lärm und das Hupen der Taxis auf der Madison Avenue. Drinnen sitzt Elie Wiesel in seiner Stiftung in New York am Schreibtisch.
Hier stapeln sich so viele Bücher, dass gerade noch Platz für seine Kaffeetasse ist. Für Wiesel, der am vergangenen Montag (30.9.) seinen 85. Geburtstag feierte, sind Bücher der Schlüssel zur Erinnerung. Der Friedensnobelpreisträger sorgt sich: Was wird sein, wenn der letzte Zeuge des Holocaust verstummt ist? „Ich hoffe, dass die Erinnerung an diese Zeit nicht verfälscht noch vergessen werden kann und niemals wird“, sagt er im dpa-Interview.
Frage: Herr Wiesel, Sie haben einmal gesagt, dass jeder, der einem Zeugen zuhört, selbst zum Zeugen wird. Wie wird es die Erinnerung junger Menschen verändern, wenn es keine Zeugen mehr gibt und sie vom Holocaust nur noch aus Geschichtsbüchern erfahren?
Antwort: Das ist meine große Sorge. Wer wird der letzte Zeuge sein, der letzte, der sagen kann: „Ich war da“. Ich kann mir vorstellen, dass sich diese Person vermutlich sehr ängstlich und gequält fühlen muss ob der Frage, was passieren wird, wenn sie einmal nicht mehr sein wird. Wenn der letzte Zeuge verstummt. Deshalb müssen wir, solange es uns gibt, alles versuchen, mit unserem Verstand, unserer Erinnerung und unseren Worten. Was sonst können wir mit unseren Leben anfangen?
Frage: Aber wird sich die Erinnerung der Menschen verändern?
Antwort: Ich hoffe, dass die Erinnerung an diese Zeit nicht verfälscht noch vergessen werden kann und niemals wird. Aber wahrscheinlich wird es Versuche seitens bestimmter Kreise oder Gruppen geben, die Erinnerung zu verdrehen. Und dann wird es keine Zeugen mehr geben, die sagen „he, warte, sage das nicht, denn ich war da“. Und das erfüllt mich mit Sorge. Deshalb schreiben wir, weil das Geschriebene bleibt.
Frage: Halten Sie es für Ihre Verantwortung, die Erinnerung am Leben zu erhalten?
Antwort: Ich glaube, das ist die Verantwortung aller, die den Krieg und diese Erlebnisse durchgemacht haben. Ein Zeuge muss das Zeugnis ausschöpfen - das ist moralisch gesehen seine Pflicht. Er darf es nicht mit sich ins Nichts nehmen.
Frage: Aber wie schaffen Sie es, mit solchen Erinnerungen fertig zu werden?
Antwort: Sie meinen eine Katharsis? Es geht nicht darum, die Erinnerung zu verdrängen, sondern sie zu vertiefen.
Frage: Was ist der richtige Weg für junge Deutsche, mit dem Thema und der Schuldfrage umzugehen?
Antwort: Sie sollten sich zuerst einmal klar machen, dass Schuld nicht einfach von Generation zu Generation, von Mensch zu Mensch vererbt wird. Für junge Deutsche ist es nicht und war es vor allem vor zwanzig Jahren nicht leicht zu wissen, dass sie der Sohn oder die Enkelin von wer weiß wem sind. Doch nur die Person, die etwas verbrochen hat, ist schuldig. Ich verstehe, aber akzeptiere nicht, dass sich deutsche Jugendliche schuldig fühlen. Doch das spricht für sie, dafür, dass sie sensibel mit dem Thema umgehen und das Gefühl haben, etwas wieder gut zu machen, was ihre Vorfahren verbrochen haben.
Frage: Trotzdem: Ist es möglich, uns abgetrennt von unserer Geschichte zu sehen?
Antwort: Natürlich tragen wir die Geschichte unseres Landes mit, aber das macht uns noch lange nicht schuldig. Ich hatte schon Studenten, die ihre Familien verlassen wollten wegen der Schuld. Ich erinnere mich da an ein Gespräch mit einem meiner Studenten, den ich damals fragte, warum er seine Familie verlassen wollte. Und er fing an zu weinen. Sein Vater war ein SS-Oberst.
Frage: Und hat er sie verlassen?
Antwort: Nein, ich sagte zu ihm: „Du kannst jetzt etwas für Deinen Vater tun, aber ihn zu verlassen, ist keine Lösung.“
Frage: Als Sie in Deutschland waren, haben Sie mit deutschen Jugendlichen gesprochen?
Antwort: Ja, aber nicht lange genug. Ich würde gerne einmal eine ganze Woche da sein und mit ihnen reden, Tag für Tag. Ich fühle mich diesen deutschen Jugendlichen sehr nahe. Junge Menschen sind unschuldig und sollten respektiert und geliebt werden. Ich bin nicht ihr Richter, sondern ihr alter Freund, das sollen sie in mir sehen.
Frage: Ich habe gelesen, dass Sie niemals denselben Kurs zwei Mal geben.
Antwort: Ich lehre nun seit über vierzig Jahren und habe niemals einen Kurs wiederholt.
Frage: Warum?
Antwort: Ich will selbst Schüler in meinem Kurs sein, nicht nur Lehrer.
Frage: Gibt es trotzdem etwas, das Sie Ihren Studenten immer mitgeben wollen?
Antwort: Natürlich. Zuerst die Suche nach Erinnerung. Wir haben einmal gesagt, Philosophie sei die Suche nach Wahrheit und das ist sie immer noch. Aber ich glaube, sie ist auch eine Suche nach Erinnerung. Was kann meine Generation jüngeren Generationen mitgeben, damit meine Erinnerung Eure nicht plagt?
Frage: Hat sich Ihr Verhältnis zur Erinnerung über die Jahre verändert?
Antwort: Nein, aber es ist tiefgründiger geworden. Das Fehlen von Erinnerung ist nie eine Antwort.
Frage: Wie haben Ihre Erlebnisse im Konzentrationslager Sie und Ihr Leben beeinflusst?
Antwort: Wenn der Krieg und Auschwitz nicht gewesen wären, wäre ich vermutlich in meinem Dorf geblieben und würde den Talmud lehren. Ich wollte schon immer Lehrer werden, denn ich war immer Schüler und bin es heute noch. Ein Schüler, der andere Schüler lehrt.
Frage: Was war der wichtigste Moment in Ihrem Leben nach 1945?
Antwort: Als ich das erste Mal nach Jerusalem kam, hat mich das tief beeindruckt. Oder als ich mich zum ersten Mal verliebte. Das war in einem Kinderheim und ich war ein Romantiker. Ich habe mich in jedes einzelne Mädchen meines Chors verliebt. Nacheinander, nicht in alle gleichzeitig! Ich war der Chorleiter. Und die Mädchen haben es nie erfahren, aber ich war verliebt. Ich habe das damals gebraucht, verliebt zu sein.
Frage: Warum?
Antwort: Um die Liebe nach dem Krieg wieder zu entdecken. Es war notwendig für mich zu erfahren, dass Liebe auch ein Teil des Lebens ist.
Frage: War es denn schwierig, die Liebe wiederzufinden?
Antwort: Nein, die Mädchen in dem Kinderheim waren sehr schön.
Frage: Wie haben Sie es geschafft nicht zu hassen?
Antwort: Hass ist keine Lösung. Was kann Hass schon tun, um den Schaden wiedergutzumachen, um den Schmerz zu stillen? Hass ist ein schlechter Rat und deshalb habe ich nie gehasst. Was Hass macht mit dem, der hasst, ist schlimmer, als was er mit dem Gehassten macht. Wut, ja. Ungerechtigkeit macht mich wütend, vor allem, wenn ich machtlos bin, etwas dagegen zu tun.
Frage: Was sind die großen Herausforderungen unserer Zeit?
Antwort: Die Welt ist noch lange nicht perfekt. Wird sie das jemals sein? Wir müssen sicherstellen, dass die Erinnerung bewahrt wird. Wir können keine neue Gesellschaft auf den Ruinen der Vergangenheit aufbauen. Wir müssen eine neue Gesellschaft schaffen zusammen mit den Kindern der Vergangenheit, die heute älter sind, und zusammen herausfinden, was wir mit diesen Ruinen anstellen können. Wenn ich will, dass meine Erinnerungen junge Menschen nicht verletzen, muss ich darüber hinweg kommen.
Frage: Woran arbeiten Sie gerade?
Antwort: Ich arbeite immer und schreibe Bücher.
Frage: Und verraten Sie mir, worüber Sie momentan schreiben?
Antwort: Da bin ich abergläubisch.
Frage: Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Antwort: Mehr Bücher schreiben, mehr Kurse geben und mit mehr Journalisten sprechen - aber nur, wenn sie so sind wie Sie.