DDR-Flüchtling Flucht mit dem Heißluftballon: Günter Wetzel und die genähte Freiheit

Rees · Der größte Coup seines Lebens wurde inzwischen schon zweimal verfilmt. Aber selbst erzählt der DDR-Flüchtling erst seit ein paar Jahren wieder davon.

Knapp 1300 Quadratmeter Stoff, 60 Nähte – und am Ende der größte selbstgebaute Ballon Europas: David Kross als Günter Wetzel in einer Szene des Films „Ballon“ von Michael Bully Herbig.

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Ob er ein mutiger Mensch sei? „Nö“, antwortet Günter Wetzel. Im Gegenteil: Hinter der Sache mit dem Heißluftballon habe ja die Idee einer gefahrlosen Flucht gestanden. „Wir haben unseren Frauen so sehr klargemacht, dass nichts passieren kann, dass wir selbst daran geglaubt haben.“ Der Glaube muss stark gewesen sein, damals vor 39 Jahren, und das Glück groß. Jedenfalls hat es in der Nacht zum 16. September 1979 für 28 Minuten gereicht. 28 Minuten, in denen der selbstgenähte Ballon von einer Wiese bei Oberlemnitz (DDR) bis zu einer Höhe von

2000 Meter aufstieg, ehe er 18 Kilometer weiter südlich in der Nähe des oberfränkischen Naila (BRD) ziemlich unsanft wieder landete. Für die Eheleute Wetzel und Strelzyk sowie ihre jeweils zwei Söhne war es eine Landung in der Freiheit.

Die DDR stand nach der spektakulären Flucht blamiert da, der Westen konnte sich nicht satthören und -sehen. Die Exklusivrechte an der Geschichte sicherte sich der „Stern“, schon drei Jahre später warf Hollywood die Verfilmung „Mit dem Wind nach Westen“ auf den Markt. Mit dem Streifen kann Wetzel bis heute nicht viel anfangen. Nach der gelungenen Flucht lag er wegen eines Muskelfaserrisses zunächst im Krankenhaus. Ein paar Monate später verschwanden er und seine Familie ganz aus der Öffentlichkeit. „Unser Ziel waren ja nicht die Medien, unser Ziel war es, uns ein neues Leben aufzubauen.“

Zielstrebig auch beim Aufbau des neuen Lebens

Wer den heute 63-Jährigen reden hört, gewinnt den Eindruck eines sehr zielstrebigen Menschen. In der DDR war er Maurer, Forstfacharbeiter, Berufskraftfahrer. In der BRD erst umgeschulter Kfz-Mechaniker, dann Kfz-Mechanikermeister und Kfz-Elektrikermeister. Bis zu seinem vorgezogenen Ruhestand arbeitete Wetzel zuletzt als EDV-Trainer im Außendienst für Peugeot/Citroën. Anders als die Eheleute Strelzyk, die nach der Wende wieder zurück in ihr Haus nach Pößneck in Thüringen zogen, lebt er bis heute in Oberfranken, wo der Ballon damals vom Himmel fiel. Beim Aufbau des neuen Lebens war er nicht zögerlich.

Vielleicht hat das mit einer bei Wetzel offenbar besonders ausgeprägten DDR-Eigenschaft zu tun: nichts zu haben und alles daraus zu machen. An dem Fluchtballon lässt sich das gut ablesen: eine Wäscheleine als Korbumrandung, ein Ofenrohr als fest installierter Einrohrbrenner, ein Stück Wasserleitung und zwei Kräne als weiterer mobliler Brenner umfunktioniert, das MZ-Motorrad für das Gebläse zum Ballonfüllen geopfert. Und dann die knapp 1300 Quadratmeter an Regenschirmseide, Taftstoff, Zeltnylon und Bettinlett, zusammengenäht zum damals größten selbstgebastelten Ballon Europas. Ein bisschen Kunstsinn war auch noch dabei: „Ich habe bewusst nie zweimal dieselbe Farbe nebeneinander verwandt.“

Geschichtsverein Rees mit Verbindungen zu Bully Herbig

Wenn Wetzel von damals erzählt, tut er das genauso zielstrebig, wie er wirkt. Kein „Äh“ und „Mmmh“, konzentriert und klar bis zu zwei Stunden lang. Am vergangenen Dienstag war das zuletzt so im niederrheinischen Rees: vormittags vor 150 Neunt- und Zehntklässlern des örtlichen Gymnasiums Aspel, am Abend vor weit über 200 Zuhörern im Bürgerhaus auf Einladung des Reeser Geschichtsvereins. Kein Zufall: Ein Vorstandsmitglied ist der Filmjournalist Michael Scholten, der schon seit Jahren die Pressehefte für die Filmproduktionen von Michael Bully Herbig zusammenstellt, zuletzt für „Ballon“, die atemberaubend spannende Neuverfilmung der Fluchtgeschichte.

Es ist noch nicht lange so, dass Wetzel die alten Geschichten wieder auspackt. 30 Jahre lang hat er geschwiegen und Peter Strelzyk das Feld überlassen. Immer wieder hat er sich geärgert dabei, weil der Fluchtpartner der damaligen Zweckgemeinschaft nach seinem Empfinden mehr und mehr Anteil am Fluchtgelingen für sich selbst in Anspruch nahm. Der Kontakt war schon Anfang der 80er Jahre abgebrochen, nachdem Strelzyk zweimal an beide Familien gerichtete Einladungen zu Ballonfahrten erhalten und ohne Rücksprache jeweils für sich zu- und für Wetzels abgesagt hatte. 2009 reichte es Günter Wetzel schließlich und er veröffentlichte auf einer Internetseite seine Version der Fluchtgeschichte (www.ballonflucht.de). Auch das gemeinsam durchgestandene Drama einer lebensgefährlichen Flucht schweißt nicht zwangsläufig zusammen.

Lobende Worte für die Neuverfilmung der Flucht

Peter Strelzyk hat die Neuverfilmung nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er starb im März 2017 im Alter von 74 Jahren. Aber die beiden Familien haben sich durch die Mitarbeit an Bully Herbigs Film wieder angenähert. Für dessen erstes Drama hat Wetzel nur lobende Worte übrig. Klar, einiges ist dramaturgisch zugespitzt. Aber die Kerngeschichte stimmt, die Atmosphäre auch und zahlreiche DDR-Details. Der Stasi-Offizier hat tatsächlich schräg gegenüber von Strelzyks gewohnt. Deren erster Fluchtversuch mit dem Ballon am 4. Juli 1979 scheiterte zwar nicht 200 Meter, sondern drei Kilometer vor der Grenze, aber doch schon innerhalb des Sperrgebiets.

Ab dann tickte die Uhr und die Stasi war den beiden Familien auf den Fersen. Die Auswertung von Stasi-Unterlagen nach der Wende ergab: „Sechs Tage später hätten sie uns gehabt.“ Es sind viele glückliche Umstände zusammengekommen, dass es am Wochenende vor Wetzels notwendiger Rückkehr an den Arbeitsplatz doch noch geklappt hat mit der Fertigstellung des Ballons und dem Wind aus der richtigen Richtung. In der Nacht wurde zwar nicht wie im Film die halbe NVA alarmiert. Aber an der Grenze gingen Scheinwerfer an und eine nahe Radarstation registrierte den Fluchtballon, hielt ihn aber für eine „kompakte Wolke“.

Das gesamte Vorhaben stand zudem unter dem Glück der Premiere: Nach Wetzels Recherchen hat es in der Folge weitere 72 Versuche gegeben, durch die Luft aus der DDR zu fliehen, davon 50 Mal mit dem Ballon. Alle Versuche sind gescheitert, es gab 151 Verhaftungen. Noch einmal wollte sich die DDR nicht lächerlich machen lassen.

Stasi auch im Westen gegen die Familien aktiv

Den beiden Familien hat sie die Blamage auch danach nicht verziehen. Es gab mehrere Versuche der Stasi, den Flüchtlingen im Westen das Leben schwer zu machen. Einmal wurde den Eheleuten Wetzel von einem angeheuerten Rentnerpaar angetragen, Haus und Arbeitsplätze in der DDR würden für sie freigehalten. Ein anderes Mal sollten sie nach Ungarn gelockt, um dort verhaftet zu werden. Später hat Wetzel erfahren, wen die Stasi dafür als Lockvogel engagiert hatte: „Es war mein Patenonkel.“

Der Fluchtballon ist inzwischen so geteilt, wie das Land es einst war. Ursprünglich hatten die beiden Familien ihn dem Museum Naila (Landkreis Hof) geschenkt – aus Dankbarkeit für die herzliche Aufnahme in der Stadt nach der Flucht. Später wurde eine Kopie des Korbes angefertigt „und aus Gerechtigkeitsgründen Kopie und Original vermischt“, erzählt Wetzel. Ein zur Hälfte originaler Korb ist jetzt im privaten Mauermuseum am Berliner Checkpoint Charlie zu sehen, der andere weiter in Naila. Der Ballon selbst wurde mittlerweile aufwendig restauriert und in einer Spezialvitrine verstaut. Wenn im kommenden Frühjahr das neue Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg eröffnet wird, soll er dort ausgestellt werden. Noch einmal aufgefüllt wird er aber nicht mehr – als Ballon hat er seine Schuldigkeit getan.