Europas Realität holt die Glitzershow ein

Stockholm (dpa) - Stundenlang ist beim Eurovision Song Contest alles wie immer: schwülstige Popsongs, witzelnde Moderatoren, mindestens ein halbes Dutzend Glitzerkleider. Doch nach einer spannungsreichen Punktevergabe hält überraschend die Krimtatarin Jamala die Siegertrophäe in der Hand.

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Ihr hochemotionaler Song über die Vertreibung ihrer Minderheit in der Sowjetzeit hat Europa berührt. Beim schrägsten Wettbewerb des Kontinents fällen die Europäer eine politische Entscheidung, die plötzlich viele nachdenklich stimmt.

„Das ist ein Sieg für Jamala, der als Statement nicht zu unterschätzen ist“, sagt ESC-Experte Jan Feddersen. Wäre es nur nach den Stimmen der Jurys in den 42 Ländern gegangen, hätte ESC-Exot Australien den Contest für sich entschieden. Nach dem Televoting aber steht die ukrainische Sängerin mit Tränen in den Augen als Siegerin da. Vorher hatte sie zu Moderator Måns Zelmerlöw noch gesagt: Ein Sieg „würde bedeuten, dass Europa mich ziemlich gut versteht“.

Europa - was ist das? Selten stand die Zerrissenheit des Kontinents in den vergangenen Jahrzehnten so im Fokus wie heute. Flüchtlingskrise, Brexit-Gefahr und die Spannungen mit Moskau drohen den Kontinent noch weiter zu entzweien. Ein Gemeinschaftsgefühl fehlt vielen Europäern in diesen hochbrisanten Zeiten. Da hinein platzt das knallbunte Popfest.

Das in unpolitischem Gewand daherkommt, aber immer politisch ist und in diesen Zeiten auch gar nicht anders kann. „Vielleicht bedeutet dieser Contest mehr, als wir gedacht haben“, sagt der Abba-Sänger Björn Ulveaus. Schon in der Vergangenheit nutzten die Europäer den ESC, um Zeichen zu setzen. 2014 zeigten sie Toleranz, als sie die Dragqueen Conchita Wurst aus Österreich zur ESC-Königin erkoren.

Am Samstag zeigen sie Mitgefühl mit einer Minderheit. Dem reduzierten, traurigen Song der Krimtatarin geben die Europäer den Vorzug vor der perfekt durchinszenierten 3D-Performance des Russen Sergej Lasarew.

In „1944“ erzählt Jamala die Geschichte ihrer Urgroßmutter, die unter Sowjetdiktator Josef Stalin deportiert wurde. Sie hat das Lied auf Krimtatarisch und Englisch selbst komponiert. „Ich wünschte, dass meiner Urgroßmutter diese schrecklichen Dinge nicht passiert wären“, sagt die 32-Jährige. „Mir wäre es lieber, mein Song würde nicht existieren.“ Manche sehen in dem Lied eine Kritik an der russischen Annexion der Krim. Ob der Song überhaupt zugelassen werden sollte, wurde kontrovers diskutiert. Aber schließlich gab es grünes Licht.

Schließlich gewinnt die Ukraine das Duell gegen den großen Gegner, als David gegen Goliath, zumindest auf der ESC-Bühne. Auch wenn der Russe Lasarew von den Zuschauern die meisten Punkte bekommt, weshalb es den Russen schwerfällt, die Niederlage zu akzeptieren.

Dass Deutschland dagegen schon wieder das ESC-Schlusslicht macht - nach der Blamage mit null Punkten im vergangenen Jahr gibt es diesmal mickrige elf für Jamie-Lee - geht bei soviel politischer Brisanz fast unter.

Neben der Ukraine und Russland liefern auch andere Kandidaten in Stockholm eine starke Performance ab: die australische Popdiva Dami Im mit ihrer Power-Ballade, Belgien mit seinem fröhlichen Disco-Hit oder der Franzose Amir mit dem breitesten Lächeln des Wettbewerbs. Aber kein Song hallt so nach wie der der Krimtatarin mit seinem traurigen persönlichen Hintergrund.

Die Moderatoren Petra Mede und Måns Zelmerlöw winden sich im ESC-Finale nicht um Anspielungen auf die politische Situation des Kontinents herum. „Gerade stehen Europa wieder dunklere Zeiten gegenüber“, sagt Zelmerlöw gleich zu Beginn. „Heute schieben wir unsere Differenzen zur Seite und werden durch die Musik geeint“, sagt Mede. Dann setzen die beiden den dunklen Zeiten eine schrille, glamouröse Show entgegen. Mit einer wohltuenden Portion Selbstironie.

In der Parodie „Love Love Peace Peace“ (Liebe Liebe Frieden Frieden) nehmen sie den perfekten Eurovision Song auf die Schippe. Doch als Jamala als Siegerin auf der Bühne steht, ist das erste, was die Ukrainerin sagt: „Ich möchte wirklich Liebe und Frieden für alle haben.“ Und plötzlich klingt das überhaupt nicht mehr nach Worthülsen.

Nach ihrem Sieg steigt der ESC also im nächsten Jahr in dem Land, in dem seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014 der Konflikt schwelt. Die Verhandlungen über Frieden sind festgefahren. Das Popfest soll trotzdem dort steigen.