Gerlinde Unverzagt: „Wir haben unsere emotionale Erfüllung auf die Kinder ausgelagert“

Wenn die Kinder flügge werden, tun sich Eltern schwer damit. Die Autorin Gerlinde Unverzagt spricht im Interview über Kinder als Freunde, die Würde des Alters und die Gefahren einer falschen Symbiose.

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Berlin. Bis auf die Nachprüfungen ist das Abitur 2018 in NRW abgeschlossen. Und jetzt? Der Begriff Postadoleszenz beschreibt eine Lebensphase zwischen Jugend und Erwachsenenalter, die geprägt ist von Unsicherheit, längerem Ausprobieren — und einem weiter sehr engen Verhältnis zu den Eltern. Die Journalistin Gerlinde Unverzagt hat sich intensiv mit dieser ausufernden Schnittstelle befasst und auch ein Buch dazu geschrieben. Eine Begegnung in ihrem Berliner Wohnviertel Schöneberg.

Frau Unverzagt, Ihre vier Kinder sind inzwischen aus dem Haus. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?

Gerlinde Unverzagt: Der Jüngste ist vor vier Wochen ausgezogen und meine jüngste Tochter vor zwei Monaten. Ich bin schon seit acht Jahren in diesem Abschiedsbusiness. Aber jetzt muss ich endgültig über die Schwelle.

Wie alt sind die Kinder?

Unverzagt: 28, 26, 23 und 21. Der Jüngste ist erst mal nach Neuseeland gereist. Aber bisher sind alle nach Berlin zurückgekehrt und haben hier eigene Wohnungen.

Und wie ist Ihr Kontakt untereinander?

Unverzagt: Ich war in der ersten Woche entsetzlich traurig. Momentan befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der wir neu austarieren müssen, wie das jetzt gehen soll: Kommt man unangemeldet auf einen Kaffee vorbei oder nicht, ruft man an oder nicht? Mein neues Konzept ist das der passiven Mutterschaft: Ich nerve nicht mit Anrufen, aber wenn die Kinder etwas wollen, können sie sich jederzeit melden. Das ist aber ganz falsch angekommen nach dem Motto: Die interessiert sich gar nicht für uns. Es gab dann eine Krisensitzung, auf der die drei, die noch in Berlin sind, die Wochenenden aufgeteilt haben, an denen sie sich um mich kümmern wollen. Ich habe mal im Spaß gesagt: Andere haben Helikopter-Eltern und ich habe Helikopter-Kinder.

Sie schreiben, die Nähe zwischen Eltern und Kindern sei so groß wie nie zuvor. Fangen wir bei den Eltern an: Welchen Vorteil haben sie davon?

Unverzagt: Einerseits ist es schön, mit den eigenen Kindern in Harmonie zu leben, andererseits bestehen auch große gesellschaftliche Strömungen, die das befördern. Es gibt mehr Einzelkinder und auf denen lasten größere Ansprüche. Dann ist da der Paradigmenwechsel in der Erziehung, der kleine Kinder als Partner sieht, mit denen man Dinge ausdiskutiert. Das führt schnell dazu, dass die großen Kinder zu Freunden werden. Aber wenn man immer für seine Kinder da ist, wird genau das irgendwann zum Problem. Wir haben unsere emotionale Erfüllung auf die Kinder ausgelagert. Sie sind dazu da, um uns glücklich zu machen. Die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten wie Whatsapp erleichtern diese Nähe noch.

Was ist das Problem daran?

Unverzagt: Dass die Eltern damit einem unglaublichen Jugendwahn hinterherlaufen. Und in diesem Prozess verliert das Ältersein seine Würde. Stattdessen fangen wir an, unsere Kinder zu kopieren: Wir hören die gleiche Musik, wir ziehen uns genauso an, wir benutzen ohne Hemmungen ihren Slang.

Sie sind alleinerziehende Mutter. Welchen Einfluss haben die vermehrten Scheidungen auf diese Prozesse?

Unverzagt: Sie begünstigen das noch. Scheidungskinder werden, auch ohne dass das die Beteiligten wollen, oft ein Stück Partnerersatz. Es gab dazu eine Fernsehdokumentation, die als Titel das Zitat hatte: „Mein Sohn ist der Mann meines Lebens.“ Die Formel „Bis dass der Tod uns scheidet“, gedacht als Ausdruck romantischer Liebe zwischen Mann und Frau, wird langsam verdrängt von der Beziehung zum Kind als dem Einzigen, was bleibt und unauflöslich ist. Und auf der anderen Seite: Auch der Elternteil, der auszieht, ist doch nicht so doof, am Wochenende, wenn er seine Kinder hat, mit ihnen noch Konflikte auszufechten.

Zur Sicht der Kinder: Ist das Hotel Mama nur Klischee oder durch Zahlen belegt?

Unverzagt: Studien beweisen, dass wesentlich mehr Kinder als früher auch als Erwachsene zu Hause leben, vor allem Jungs. 2016 wohnten 42 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren noch im Elternhaus. Aber dazu gehören eben auch Eltern, die das befördern. Oft ist der Deal: Wir machen es dir richtig schön und dafür bleibst du da. Das ist der Unterschied zu unserer Generation: Wir mussten ja noch weggehen, um uns entfalten zu können.

Sie sprechen von der infantilen Gesellschaft, die keine Unterschiede mehr macht, sondern die Symbiose kultiviert. Mit welchen Gefahren?

Unverzagt: Um gärtnerisch zu antworten: Die Pflänzchen im Beet können nur gedeihen, wenn sie pikiert werden. Ohne Vereinzelung entsteht Wurzelkonkurrenz. Die große Klammer für dieses Ähnlichsein und Engsein ist der Konsum, der Erwachsene auch als Kinder anspricht.

Sie beschreiben diese Nähe zwischen Eltern und Kindern als Problem der Mittelschicht moderner Industriestaaten.

Unverzagt: In anderen Kulturen gibt es Rituale, die Jugendliche in das Erwachsenenalter überführen und sie dabei neben Rechten auch mit Pflichten ausstatten. Dazu gehört die Existenzsicherung. Wir sind so reich, dass wir es uns leisten können, Familienmitglieder zu alimentieren, die längst im Stande wären, sich selbst zu ernähren. Nur in der Pflegediskussion taucht dieser alte Generationenvertrag wieder auf, dass Eltern am Ende ihres Lebens die Hilfe ihrer Kinder benötigen.

Wenn sich Berufsfindung und Familiengründung immer weiter nach hinten verschieben, was bedeutet das für die klassischen Lebensphasen?

Unverzagt: Diese lange Phase des Erwachsenwerdens mündet in der Rushhour des Familienlebens, wo ab 30 dann alles auf einmal passieren muss: Karriere, Partnerfindung, Kinder. Aber das schließt sich aus, weil man nicht auf so vielen Hochzeiten gleich gut tanzen kann.

Viele Eltern kennen die Orientierungslosigkeit ihrer Kinder nach dem Abitur. Wird die Nähe zwischen Eltern und Kindern nicht auch dadurch befördert, dass es eigentlich eine Überforderung ist, sich zwischen den vielen Möglichkeiten der Globalisierung zu entscheiden?

Unverzagt: Und so kommt es, dass Eltern mit dem schweigenden Sohn in der Studienberatung sitzen und sagen: Wir interessieren uns für Maschinenbau. In Münster gibt es für Eltern schon Erstsemestereinführungen samt geführter Kneipentour. Ein genialer Schachzug der Tourismusförderung. Natürlich, diese Überforderung der Abiturienten besteht. Aber ich bin da hart: Das ist der Preis der Freiheit.

Sie kritisieren, dass diese Form der Generationensolidarität die soziale Ungerechtigkeit verstärkt.

Unverzagt: Das ist doch klar, weil sich das fortsetzt. Mich regt immer auf, wenn sich die Menschen wieder neu empören, dass der Bildungserfolg in Deutschland vom Elternhaus abgehängt. Ja, was denn sonst? Genauso könnte man sagen: Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Margarine Fett enthält. Schule ist hier darauf ausgerichtet, dass Eltern zuarbeiten. Das kann keine Mutter leisten, die nicht Abitur hat oder der die wirtschaftlichen Möglichkeiten fehlen, sich diesen Freiraum zu schaffen. Ich will damit nichts abqualifizieren, aber so ist es.

Ihr Essay zu dem Thema für die Konrad-Adenauer-Stiftung endet mit dem Satz: „Heute haben Kinder keinen wirtschaftlichen Nutzen mehr für Eltern, ihr emotionaler Wert dagegen ist unermesslich hoch.“ Wo sehen Sie Auswege?

Unverzagt: Es ist ganz wichtig, mit erwachsenen Kindern darüber zu reden und auch einen eigenen Standpunkt zu wagen. Da kommen wir wieder zu meinem Konzept passiver Mutterschaft zurück, das völlig falsch angekommen ist. So etwas muss austariert werden. Es gibt ja auch kein Ritual, das ein Kind von seinem Kinderzimmer ins Leben überführt. Viele lassen den Kram, den sie nicht mehr gebrauchen können, einfach da. Es wäre gut, sich vorher zu überlegen, was jetzt mit dem Zimmer werden soll. Und wenn das Kind dann noch vor dem Auszug die Wände streicht, ersetzt das vielleicht ein solches Ritual. Und gleichzeitig ist es für Eltern wichtig, sich die Würde des Alters zurückzuerobern. Denn früher nannte man das Erfahrungsschatz.