Wer war's denn? Wenn der „Tatort“ keinen Täter überführt
Berlin (dpa) - 102 Wochen, fast zwei Jahre, gab es keinen eigenen Fall für „Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm. Zuletzt zu sehen war Maria Furtwängler in dieser Rolle vergangenen November im 1000. „Tatort“, dem Jubiläumskrimi, an der Seite von Axel Milberg als Borowski.
Am Sonntag war sie wieder allein im Einsatz. Und dann das: ein offenes Ende, am Schluss kein Täter.
Das Interesse an dem Fall war jedenfalls groß: Im Schnitt 10,22 Millionen verfolgten ab 20.15 Uhr Lindholms Ermittlungen. Der Marktanteil lag bei 28,1 Prozent - nicht ganz jeder dritte Zuschauer um diese Zeit.
Gab es bei Deutschlands beliebtester TV-Reihe schon öfter Krimis wie „Der Fall Holdt“? „Allerdings“, sagt in Mannheim der Experte François Werner von „Tatort-Fundus.de“, der alle 1034 Krimis der Reihe seit 1970 kennt. „Es gibt ein paar Folgen ohne Täter oder Täterin. Die Macher setzen das Mittel aber eher selten ein, denn es verärgert viele Zuschauer, weil es das Bedürfnis nach einem beruhigenden Ende, bei dem Recht und Ordnung wiederhergestellt sind, durchkreuzt.“
„Tatort“-Krimis dieser Art könnten damit eigentlich zu den sogenannten Experimenten zählen, die die ARD-Verantwortlichen nun auf zwei pro Jahr begrenzen wollen. Fernsehfilmkoordinator Jörg Schönenborn hatte die Experimente-Beschränkung Ende Oktober der Deutschen Presse-Agentur bestätigt, was eine Debatte bei Medien, Fans und Filmemachern auslöste. Die „Bild am Sonntag“ titelte dazu jetzt eine Woche später: „Sehnsucht nach "Tatort" wie früher“.
Laut Experte François Werner gab es sogenannte täterlose „Tatorte“ vergleichsweise häufig beim Münchner Team Batic/Leitmayr (Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl) - zuletzt erst vor einem Jahr im Film „Die Wahrheit“, in dem ein Unbekannter einen Familienvater ersticht.
Ende 2012 hatte auch die Folge „Der tiefe Schlaf“ ein offenes Ende. Sie blieb vielen wegen Fabian Hinrichs in Erinnerung in seiner Rolle als Assistent Gisbert. Inzwischen ist Hinrichs Kommissar im Franken-„Tatort“. In dem Film von vor fünf Jahren ist sich Leitmayr zwar wegen eines verdächtigen Räusperns sicher, einen Mann als Täter zu erkennen - aber bei der Verfolgung durch einen Wald läuft der mutmaßliche Täter vor ein fahrendes Auto und ist tot.
Legendär ist außerdem der Krimi „Frau Bu lacht“ (1995) von Dominik Graf, der auch kürzlich den RAF-„Tatort“ verantwortete. Darin verschleppen Batic und Leitmayr bewusst die Ermittlungen, so dass die Mörderin ungestört nach Thailand fliehen kann.
Einen laufengelassenen Täter hatte übrigens bereits der erste „Tatort“ überhaupt - die Folge „Taxi nach Leipzig“ von 1970.
Offene Enden hatten auch der Berliner Fall „Die kleine Kanaille“ (1986) und der Berliner Krimi „Vielleicht“ (2014; in dem zumindest einer von mehreren Tätern entkam) sowie der Frankfurter Krimi „Weil sie böse sind“ (2010).
In „Weil sie böse sind“ mit dem Ermittlerduo Sänger und Dellwo (Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf) weiß der Zuschauer genau, dass die Figur Rolf Herken (Milan Peschel) ein dreifacher Mörder ist, auch wenn alle Taten eher zufällig geschehen. Die Kommissare tappen völlig im Dunkeln. Sie begegnen ihm nicht, am Ende laufen sie an ihm vorbei, ohne einen blassen Schimmer zu haben. Der Fall geht ans LKA.
Bei einem Krimi mit Ulrike Folkerts - „Der Wald steht schwarz und schweiget“ (2012) - blieb die Täterfrage bewusst offen und der Südwestrundfunk (SWR) machte daraus ein Online-Spiel. Doch die Mitmachlust der Zuschauer jenseits des Fernsehers blieb verhalten.
Vielen in Erinnerung, auch wegen der Fortsetzung vor zwei Jahren („Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“), ist der Krimi „Borowski und der stille Gast“ (2012), in dem der Frauenmörder Kai Korthals (eindrucksvoll: Lars Eidinger) am Ende vermeintlich schwer verletzt aus einem Notarztwagen fliehen kann.
In den Ludwigshafener Folgen „Der Präsident“ (2001) oder „Sterben für die Erben“ (2007) gab es laut „Tatort“-Experte Werner dagegen keinen gefassten Täter, weil sich das Ganze als Suizid entpuppte.
Auch wenn jetzt aktuell über Experimente beim „Tatort“ debattiert wird: Außergewöhnliche Filme gab es in der Reihe eigentlich schon immer. Es scheint aber eine neue Sensibilität und Lust an der Kritik zu geben. Nicht zuletzt in sozialen Netzwerken äußern Zuschauer ihren Unmut darüber, dass der früher angeblich verlässliche Sonntagskrimi zu oft kein normaler Krimi mehr sei. Es gebe kaum noch „Tatort“-Filme nach traditionellem Schema. Sprich: ein Mordopfer, Verhöre durch die Kommissare, Zuschauer können mitraten, schließlich eine überraschende Wende und dann die Täterentlarvung - Ende gut, alles gut.
„Bild“ fasste diese Krimi-Nostalgie vor ein paar Monaten unter der Überschrift „Wir wollen unsere ermordete Millionärin wiederhaben!“ zusammen. Allerdings gab es getötete Millionärinnen beim „Tatort“ schon immer eher selten. Das klingt eher nach „Derrick“-Sehnsucht.
Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht an der TU Dortmund, der schon Studien zum „Tatort“ verfasste, sagt übrigens, eine Studie von ihm zu den „Tatort“-Krimis des Jahres 2015 habe ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Krimis ganz klassisch mit einem Tötungsdelikt begannen und am Ende der Kriminalfall ganz normal aufgelöst worden sei.