Guten Rutsch und schönen Weltuntergang!
Das erste Jahrzehnt des Millenniums ist zu Ende — dabei sollte schon zu seinem Beginn die Apokalypse über uns kommen. Warum wir den Endzeit-Propheten niemals trauen sollten.
Düsseldorf. Das erste Jahrzehnt des Millenniums ist zu Ende — dabei sollte schon zu seinem Beginn die Apokalypse über uns kommen. Warum wir den Endzeit-Propheten niemals trauen sollten.
Auf den Plätzen rufen Prediger das Ende der Zeit aus, in den Kirchen knien die Menschen und flehen mit irrem Blick zu Gott. Das Diesseits scheint an sein Ende gekommen. Überall wütet der schwarze Tod. Die Pest, sie gilt als Vorbote der Hölle und Strafe Gottes: dafür, dass die Einheit des Glaubens durch Ketzerei zerbrochen ist, dafür, dass lästerliche Naturwissenschaftler die Gewissheiten der Schöpfung in Frage stellen. Auf den Scheiterhaufen brennen Hexen, aber alle Hoffnungen bleiben unerfüllt, dass mit ihnen auch die Ängste der Menschen vor der Endzeit in Flammen aufgehen.
Aber als die Menschen am ersten Morgen des 17. Jahrhunderts aus den Fenstern blicken, sehen sie verblüfft, wie die Sonne über die Stadtmauer kriecht, während die Kirchturm-Uhr wie gewohnt zur vollen Stunde schlägt.
Zwar klingt das Jahrtausend rein rechnerisch erst am 31. Dezember 2000 aus, aber wegen des spektakulären Ziffernwechsels definiert das globale Dorf schon jetzt: Das Ende ist nah’.
Zum Beispiel Tim May. Der Computer-Experte deckt sich mit Lebensmitteln für 90 Tage ein, kauft einen Stromgenerator, einen großen Wassertank, ein Kurzwellenradio. Und versetzt die Weltöffentlichkeit mit einem Szenario in Angst und Schrecken: Wenn die letzte Sekunde des zweiten Jahrtausends vorüber ist, so sagt May voraus, kommt es zu einer Kettenreaktion: Flugzeuge stürzen dann ab, die Energieversorgung und der Verkehr brechen zusammen, in Atomkraftwerken kommt es zur Kernschmelze. Und das alles, weil Millionen Rechnerhirne nicht von 1999 auf 2000 umspringen können und stattdessen auf „00“ stellen — was weltweit Programme und Datennetze kollabieren lässt.
Doch als die Menschen am Morgen erwachen, surrt der Kühlschrank wie gewohnt, Computer lassen sich hochfahren, und Züge poltern über die Gleise. Der „Millennium-Bug“, die High-Tech-Apokalypse, ist ausgeblieben.
Irren ist menschlich. Und menschlich ist auch, dass wir die Ungeheuerlichkeiten der Zeit an Epochenschwellen überirdisch aufblähen, diese Meilensteine des Kalendariums nutzen, um den Strom des Erlebten zu erfassen. Die Menschen brauchen Epochen, um ihren Erinnerungen, Befürchtungen und Hoffnungen Halt zu geben. Sie brauchen Anfang und Ende, um Zeit in Geschichte zu verwandeln.
Wieder beenden wir am Freitag um 0.00 Uhr eine Einheit — das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Zwischen letzter Dämmerung und „Dinner for one“ werden wir Zeitreisende diese namenlose Dekade noch einmal Revue passieren lassen. Nuller-Epoche, Jahrhundertwende-Zeit? Wie werden wir sie benennen? Und wofür steht sie? Was war da außer Bytes und Pixel, außer i-Pods und Google-Street-View?
Wie ein Film ziehen glückliche Momente und tiefe Erschütterungen an uns vorbei. Zurück bleiben Erinnerungen an unseren ganz persönlichen Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan, zurück bleibt ein nervöses Jahrzehnt, das uns am Ende versöhnlich entlässt. Hurra, wir leben noch!
Wie war das mit dem Fluch der Globalisierung, den die Untergangspropheten vor dem Millenniumswechsel beschworen? Millionen Jobs sollten verloren gehen, Konzerne implodieren.
Nicht die Globalisierung ist ausgeblieben, wohl aber der Untergang. Heute erscheint der tausendfach totgeschriebene Standort Deutschland als Zukunftsmodell — nicht trotz Globalisierung, sondern wegen ihr.
Wenn am Ende dieser Dekade eine Angst die Welt eint, dann die vor dem Klimawandel. Als Hollywood-Regisseur Roland Emmerich 1996 die Apokalypse auf die Leinwand brachte, ließ er noch Außerirdische über die Erde herfallen. 2004 bescherte er Kino-Amerika schon eine gewaltige Flutwelle und ließ das Land anschließend in einer spontanen Eiszeit schockfrosten.
Alles Hollywood? Wir haben den Klimawandel erstmals selbst erfahren: Er donnerte als Tornado über unsere Dächer, zertrümmerte als Hagel unsere Autos und setzte als Wolkenbruch unsere Keller unter Wasser.
Aber am Ende des Jahrzehnts beflügelt auch der Klimawandel keine Phantasien vom Weltende mehr. Die Untergangsstimmung weicht dem pragmatischen Motto „Überleben im Treibhaus“. Und der nächste Weltuntergang findet nach Berechnungen des Astronomen Nostradamus sowieso erst im Jahr 3797 statt.