Höllisch scharfe Wurst: Futtern — bis es wehtut

Im Berliner Stadtteil Wedding serviert Frank Spieß Schmerzen auf Papptellern. Sein Imbiss lockt mit höllisch scharfer Currywurst.

Höllisch scharfe Wurst: Futtern — bis es wehtut
Foto: dpa

Berlin. Felix Jentsch wird mit jedem Bissen stiller. Seine Hände zittern ein wenig, sein Blick wird glasig. Er kaut weiter, schiebt sich das nächste Stück Wurst in den Mund. Ein Passant bleibt stehen und beobachtet sein rotes Gesicht. Der 22-Jährige hat die „Nummer 10“ bestellt, mit Pommes und einer Extraportion Mayonnaise.

Ein halbes Jahr hat der Publizistik-Student auf diesen Moment hingearbeitet, kam immer wieder zum Training, hat seine Würste jedes Mal eine Stufe schärfer bestellt. Nach der „Nummer 9“ hatte er einen ganzen Tag lang Magengrummeln. Jetzt also die Zehn. „Reiner Selbstzerstörungstrieb“, sagt sein Kollege, der das schmerzhafte Schauspiel mit dem Handy filmt.

Jentsch schluckt den letzten Bissen runter, hustet und hält sich den Bauch. Das ist der Moment, in dem die Schärfe in die Magengrube kriecht. Der Moment, in dem das Chili-Extrakt an den Schleimhäuten ätzt. „Es drückt und rumort.“ Jentsch krümmt sich. Dann stöhnt er und bestellt sich einen halben Liter Schokomilch.

„Wenn’s gar nicht geht: Finger in den Hals und raus damit“, sagt Frank Spieß von der Seite. Er sieht das Leid jeden Tag. Atemnot, Schweißausbrüche, Schluckauf, Magenkrämpfe. Und dann erst das Brennen im Mund. Spieß hat es selbst oft genug erlebt. „Du denkst, da geht einer mit einem Tackergerät in die Zunge rein.“

Spieß verkauft Schmerzen in Pappschälchen. Wer seine Wurstbude in Berlin-Wedding besucht, bekommt zuerst seine Soßen-Sammlung zu sehen: „Das ist unser Treppchen“, sagt er und zeigt auf die Anrichte hinter dem fettverschmierten Glas. Zehn dunkelrote Fläschchen. Sie heißen „Fire Blaster“, „Scream Hot Sauce“ und „Jolokia Nightmare“. Spieß hat die meisten im Internet bestellt. „Eins bis drei sind sehr fruchtig, das ist die Liga für Einsteiger.“ Auf den Etiketten prangen Teufelsfratzen und Totenköpfe, auf der Rückseite finden sich Haftungsverzichts-Erklärungen.

Auf jeder Flasche steht eine Zahl mit vielen Nullen. Scoville heißt die Maßeinheit für Schärfe. Tabasco hat bis zu 5000 Scoville, ein handelsübliches Pfefferspray rund zwei Millionen. Darüber kann Spieß nur lachen. Ganz oben auf seiner Treppe thront eine kleine Flasche mit der Aufschrift „Gold Edition“, gefüllt mit einer pechschwarzen Flüssigkeit. Die „Nummer 10“ — 7,7 Millionen Scoville.

Es ist stickig in dem feuerroten Container-Imbiss, sechs Quadratmeter Fritteusendunst. Die Pommes brutzeln im Fett. In der Mittagszeit bildet sich vor der Bude eine kleine Schlange. „Ein bisschen schärfer“, ordert ein Kunde. „Was heißt denn ein bisschen?“, fragt Spieß. „Wenig!“, ruft der Mann und lacht. „Mach doch mal ’ne Fünfer mit Brötchen, ich muss ja nicht mehr arbeiten heute.“

Spieß zerteilt die Würste mit Zange und Messer in mundgerechte Happen, streut das Paprikapulver drauf und gibt sein hausgemachtes Ketchup dazu. Dann träufelt der 50-Jährige seine von Scoville strotzenden Soßen auf die Wurststücke, drei bis vier Tropfen pro Portion. 150 Würste und zehn Kilo Pommes reicht Spieß am Tag durchs kleine Glasfenster. „Hier dürfen auch Männer weinen“, steht auf seinem dunkelblauen Pulli.

Berlin gilt vielen als Hauptstadt der Currywurst. „Für Berlin ist das ein Stück Stadtkultur, aber auch in Hamburg und im Ruhrgebiet sehr wichtig“, sagt der Potsdamer Mediziner Hans-Georg Joost vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung. Doch nur selten wird die Currywurst so scharf serviert wie bei Spieß. Der war früher Maurer, dann arbeitslos. Vor acht Jahren entdeckte er den leeren Container auf der Kreuzung an der Straßenbahnhaltestelle Osloer Straße. Autos rauschen vorbei, im Minutentakt spülen die Trambahnen Besucher an. Der Ort gefiel Frank Spieß sofort. Doch Wurstbuden gibt es viele in Berlin. Er musste sich etwas einfallen lassen. „Curry kriegst du ja an jeder Ecke“, sagt Spieß. Curry, die wehtut, nicht.

1,50 Euro kostet eine Wurst, für die drei schärfsten Soßen zahlen die Gäste 30 Cent Aufschlag. Mittlerweile kommen die Besucher auch aus anderen Stadtteilen, sogar aus Polen und Österreich reisen sie an. Viele Gäste suchen die Mutprobe. An der Bude kleben Dutzende Sticker mit geröteten Gesichtern drauf. Wer alle zehn Schärfegrade schafft, wird Mitglied im Curry Club und mit einem Porträtbild am Stand verewigt.

Daheim würzt Spieß sein Essen mit Chilipulver wie andere mit Salz und Pfeffer. Damit seine vernarbten Schmerzrezeptoren sich nur nicht erholen. Damit sein abgehärteter Gaumen nicht verweichlicht. Spieß will im Training bleiben.

Gegen den Schmerz hilft nicht viel. „Alles, was einen hohen Fettgehalt hat, Kakaomilch, Joghurt, am besten Mayo.“ Und Ablenken. „Du kannst es besser kontrollieren, wenn du an Erdbeertorte denkst.“ Nicht alle überstehen die Qualen. Eine Frau sei bei einem Wettessen an seiner Bude schon kollabiert: Kreislaufzusammenbruch.

Ernährungsexperte Joost hält wenig von den Schärfe-Wettbewerben. „Das kommt mir schon extrem vor“, sagt er. „Essen ist eine notwendige Beschäftigung, die man gesund betreiben sollte.“