Intimes in der Kunst und Sorglosigkeit im Netz
Frankfurt/Bad Homburg (dpa) - Ein zerwühltes Bett im Museum: leere Schnapsflaschen, eine verdrehte Strumpfhose, Tablettenpackungen, gebrauchte Kondome, ein Stofftier...
Als die britische Künstlerin Tracey Emin zur Jahrtausendwende ihr Bett zum Kunstwerk erklärte und in einer Londoner Galerie ausstellte, nahm sie ein heute viel diskutiertes Thema vorweg: das Ende der Privatheit.
Was „privat“ bedeutet, hat sich verändert, erklärt Prof. Beate Rössler, Autorin des Buchs „Der Wert des Privaten“ (Suhrkamp). Vor Erfindung des Internets meinte man „zu Hause“ im Gegensatz zu „auf der Straße“. Die 68er postulierten „Das Private ist politisch“. Heute müsste man den Begriff anders definieren, sagt die in Amsterdam lehrende Philosophin: Privat sind Informationen über mich, die ich selbst kontrolliere.
„Wenn wir alles über alle wüssten“, formulierte Rössler kürzlich beim Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg, „dann würde die Gesellschaft ersticken“. Dann gäbe es keine Freiräume mehr, in denen sich der Einzelne bewegen und - je nach Gesprächspartner - verschiedene Rollen einnehmen kann. Wenn die These vom „Tod des Privaten“ stimme, so Rössler, dann verlieren wir mehr als persönliche Autonomie: Das Thema geht die Gesellschaft als Ganzes an.
Die Frankfurter Kunsthalle Schirn widmet dem Privaten in der Kunst von November bis Februar eine große Ausstellung. 30 Künstler loten in dieser Gruppenschau „die fragilen Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem aus“. Kuratorin Martina Weinhart hat die öffentliche Inszenierung privater Ereignisse in der Kunst bis zur Mitte des vorherigen Jahrhunderts zurückverfolgt.
Um 1960 filmte Andy Warhol seinen schlafenden Lover und Stan Brakhage die Geburt seines ersten Kindes. In den 70er und 80er Jahren war das Ausstellen von Privatem oft sozialkritisch gemeint: Richard Billingham fotografierte seine Alkoholiker-Eltern, Leigh Ledare seine Mutter beim Sex mit jungen Liebhabern. Tracey Emins schuf 1999 mit „My Bed“ „eine Ikone der "Post-Privacy"-Ära“, wie Weinhart sagt.
Was Künstler vorwegnahmen, ist dank YouTube und Facebook zur Normalität geworden: das Öffentlich-Machen privater Ereignisse. Kunst ist das nicht mehr. Aber Künstler reagieren auf diese Entwicklung - und machen Kunst aus den Offenbarungen anderer. Mark Wallinger fischt Handyfotos von Schlafenden in öffentlichen Verkehrsmitteln aus dem Netz, das belgische Künstler-Kollektiv Leo Gabin arbeitet mit online gestellten Video-Schnipseln.
Nicht immer wird der „Tod des Privaten“ als Verlust beklagt. Christian Heller, Autor des Buchs „Post-Privacy“ (C.H. Beck) kann „prima leben ohne Privatsphäre“. Kathrin Passig ist gerade mit Sascha Lobo der Frage nachgegangen, ob das „Internet - Segen oder Fluch“ ist (Rowohlt). Sie glaubt, dass die Antwort vor allem davon abhängt, was man selbst erlebt hat. Ihre Erfahrung: „Es passiert nichts Schlimmes.“ Passig hat vor 15 Jahren ein Buch über Sadomasochismus geschrieben, wer suchte, konnte leicht ihre Telefonnummer finden.
Wer Angst hat, im Internet zu viele Spuren zu hinterlassen, kann das vermeiden, sagt der Psychologe Christoph Engemann, der sich an der Universität Weimar mit digitaler Identität beschäftigt. Früher schützen Türen und Wände die Privatsphäre. Aber was sind die Gardinen der digitalen Welt? „Privatsphäre im Netz heißt: Nicht-Lesbarkeit herstellen, sich unlesbar machen“, sagt Engemann.
Genau das wollte der prominenteste Teilnehmer der Schirn-Ausstellung nicht: Für den Chinesen Ai Weiwei waren Blogs und Twitter zeitweise der einzige Weg in die Freiheit. Seine öffentlich-privaten Äußerungen über das Internet betrachten die Frankfurter Ausstellungsmacher sogar als eine neue Form von Kunst, eine „soziale Skulptur des 21. Jahrhunderts“.