Kampf gegen Katastrophe in entscheidender Phase
Tokio (dpa) - Der verzweifelte Kampf gegen eine atomare Katastrophe in Japan geht in die entscheidende Phase. Mit Notstromleitungen soll am Sonntag das Kühlsystem eines schwer beschädigten Reaktors im Atomkraftwerk Fukushima wieder angeworfen werden.
Rund eine Woche nach dem Erdbeben und den Störfällen im Atomkraftwerk tauchten erste radioaktiv verstrahlte Lebensmittel auf. Zudem wurden im Trinkwasser der Hauptstadt Tokio und anderer Präfekturen Spuren von Radioaktivität nachgewiesen.
In Fukushima kämpften Techniker, Feuerwehrleute und Soldaten am Samstag weiter gegen die nukleare Katastrophe. Mit allen Mitteln versuchten sie, die Reaktoren des havarierten AKW zu kühlen, um Kernschmelzen zu verhindern. Mindestens sechs Arbeiter bekamen dabei zu viel radioaktive Strahlung ab, wie der Kraftwerksbetreiber Tepco mitteilte.
Nach rund 13 Stunden beendeten die Feuerwehrleute ihren Einsatz, bei dem sie mit Spezialfahrzeugen Meerwasser auf Reaktor 3 und 4 gespritzt hatten. Indes soll die Temperatur im Kühlbecken von Block 6 gesunken sein, wie die Nachrichtenagentur Kyodo berichtete.
Am Sonntag soll zunächst Reaktor 2 wieder an die Stromversorgung angeschlossen werden. Bevor es dazu kommt, sollen die Kühl-Anlagen des Meilers noch überprüft werden. Techniker hatten Stromkabel zu den Meilern 1 und 2 gelegt. Mit dem Strom soll das Kühlsystem des Reaktors wieder in Gang gesetzt werden, das normalerweise eine Überhitzung der Kernbrennstäbe verhindert. Ob die Pumpen und Leitungen nach den gewaltigen Explosionen an mehreren Stellen im AKW noch funktionieren, ist allerdings völlig unklar.
Positive Signale kamen von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien. Der Eintritt der schlimmstmöglichsten Katastrophe in Fukushima werde mit jedem Tag unwahrscheinlicher. „Die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung“, sagte der IAEA-Experte Graham Andrew. Man könne die Wiederherstellung der Stromzufuhr zu den Reaktoren und die Bemühungen um die Kühlung beobachten. Auch IAEA-Chef Yukiya Amano äußerte sich nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Tokio vorsichtig optimistisch: „Ich hoffe, dass die Sicherheit und Stabilität so bald wie möglich wiederhergestellt werden.“
Auch die japanische Regierung verkündete positive Botschaften zur Lage im Atomkraftwerk. Am Reaktor 3 habe sich die Situation stabilisiert, sagte Regierungssprecher Yukio Edano. Die Kühlung von außen durch Wasserwerfer zeige Wirkung. In dem Reaktorbecken gebe es mehr Wasser. Reaktor 3 ist der einzige Block, der über so genannte Mischoxid-Brennelemente (MOX) mit hochgiftigem Plutonium verfügt.
In die Dächer der Reaktoren 5 und 6, in denen ältere Brennstäbe lagern, wurden Löcher gebohrt, durch die Wasserstoff entweichen kann, ohne dass er explodiert. Die Kühlbecken dort wurden mit Notstrom aus Dieselgeneratoren des Reaktors 6 gekühlt. Zuletzt hatte die Nachrichtenagentur Kyodo am Samstag gemeldet, dass die Temperatur im Kühlbecken von Block 5 sinke.
Sollte es trotz aller Bemühungen eine komplette Kernschmelze in einem der Reaktoren 1 bis 3 oder in einem der vier Kühlbecken geben, wird das gesamte Gelände nach Experteneinschätzung so verstrahlt, dass Menschen dort nicht mehr arbeiten können. Dann dürften auch die anderen Reaktoren völlig außer Kontrolle geraten. Eine vielfache Kernschmelze wäre die Folge.
Das japanische Gesundheitsministerium prüfte einen Verkaufsstopp von Lebensmitteln aus der Präfektur Fukushima. Milch, Spinat und Trinkwasser aus der Umgebung des defekten Kernkraftwerks sind stark radioaktiv. Leicht radioaktives Wasser ist sogar im 240 Kilometer entfernten Tokio nachweisbar.
Die radioaktiven Partikel haben sich weit verteilt: In der südlicheren Präfektur Ibaraki war ebenfalls belasteter Spinat entdeckt worden. Radioaktives Trinkwasser - wenn auch weit unter den Grenzwerten - wurde außer in Tokio auch in sechs weiteren Präfekturen entdeckt. Die Nachrichtenagentur Kyodo nannte die Präfekturen Fukushima, Tochigi, Gunma, Chiba, Saitama and Niigata. Es bestehe dort jedoch keine Gesundheitsgefahr durch das Wasser, selbst wenn man es trinke, teilten das japanische Wissenschaftsministerium mit.
Der Boden im Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor herum sei kontaminiert, sagte der Leiter des Instituts für Strahlenbiologie im Helmholtz-Zentrum München, Professor Michael Atkinson der dpa. „Doch die Aktivität des Radiojodids im Bodens scheint abzuklingen. Das ist ein Hinweis darauf, dass im Moment nichts aus dem Reaktor mehr austritt.“
Die Suche nach den Opfern des Tsunamis ging weiter. Nach Polizeiangaben wurden seit der Katastrophe 7320 Leichen geborgenen. 11 370 Menschen würden noch vermisst. Weil es zu wenig Krematorien gibt, wird in den Unglücksprovinzen nach Medienberichten überlegt, die Toten zu beerdigen. Das ist in Japan nicht üblich ist, weil es fast nur Feuerbestattungen gibt.
Der Bau von Baracken für die Überlebenden begann vielerorts mit Problemen. Weil Benzin und Diesel knapp seien, konnte Baumaterial nicht geliefert werden, berichtete die Agentur Kyodo.
Die meisten Deutschen haben die japanische Hauptstadt Tokio und ihre Umgebung inzwischen verlassen. „Ich schätze, dass sich weniger als Tausend deutsche Staatsbürger noch in ganz Ostjapan aufhalten“, sagte ein Botschaftssprecher. Im Ballungsgebiet Tokio-Yokohama lebten bis zum Erdbeben etwa 3500 Deutsche. Wegen der dramatischen Lage am Atomkraftwerk verlegte auch die deutsche Botschaft ihren Sitz nach Osaka.
Während Retter fieberhaft versuchen, den Überlebenden zu helfen, kommt die Erde in Japan nicht zur Ruhe. Dem Erdbeben mit der Stärke 9,0 vom Freitag vergangener Woche sind so viele Nachbeben gefolgt wie nie zuvor. 262 Mal habe die Erde in der Woche danach mit der Stärke 5 oder mehr gebebt, teilte das Meteorologische Institut in Japan mit.