Marcel Reich-Ranicki wird 90
Einer der einflussreichsten deutschsprachigen Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, wird am Mittwoch 90 Jahre alt.
Frankfurt. Er hat einen Bekanntheitsgrad, der Politiker vor Neid erblassen lässt: 98 Prozent der Deutschen haben schon einmal den Namen Marcel Reich Ranicki gehört. Um den berühmten Literaturkritiker, der am Mittwoch 90 Jahre alt wird, ist es zwar ruhiger geworden. Doch "MRR" schreibt weiterhin seine Kolumnen. Und es kann immer vorkommen, dass er mit intellektueller Brillanz und voller Streitlust eine Diskussionslawine lostritt.
Zuletzt geschah dies vor eineinhalb Jahren, als er vor laufenden Kameras polterte, er nehme den Fernseh-Preis nicht an, weil er ein Zeichen gegen den täglichen "Blödsinn" auf der Mattscheibe setzen wollte. Dabei war es das Fernsehen, das mit dem "Literarischen Quartett" Reich-Ranicki zum großen Entertainer machte.
Seine durchdringende, krächzende Stimme und sein fuchtelnder Zeigefinger sind zu seinen Markenzeichen geworden. Keiner kann Bücher so verreißen oder in den Himmel loben. Nie zimperlich, immer streitbar, manchmal aggressiv und schulmeisterlich, oft witzig und pointiert. "Literatur ist mein Leben", sagte er einmal, doch auch er selbst ist ein großer Erzähler. Seine 1999 veröffentlichte Autobiografie hat sich millionenfach verkauft.
Er wurde in Wloclawek, Polen, geboren. Vater David, ein polnischer Jude, war Kaufmann. Mutter Helene war ebenfalls Jüdin und kam aus Deutschland. Nach dem Konkurs des väterlichen Betriebs siedelte die Familie 1929 nach Berlin um, wurde aber von den Nazis 1938 wieder nach Polen ausgewiesen.
Im Warschauer Ghetto gelang Reich-Ranicki 1943 zusammen mit seiner Frau Tosia die Flucht. Beide überlebten im Untergrund, während Eltern und Schwiegereltern in den Lagern umkamen. "Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte, konnte mit einem Juden tun, was er wollte", schrieb er einmal.
1958 kehrte er nach Deutschland zurück und machte sich bei der Zeitung "Die Zeit" einen Namen und übernahm 1973 die Leitung der Literaturredaktion der FAZ. Das große Publikum fand der Literaturpapst aber erst 1988, als das "Literarische Quartett" im ZDF startete. Rund 400 Bücher hat er dort besprochen und viele zu Bestsellern gemacht.
Der Kritiker gilt als Arbeitstier. Es scheint so, als müsse er damit die Gedanken an die eigene Vergänglichkeit vertreiben. Gelassenheit im Alter ist nicht seine Sache, die Angst vor dem Tod bleibt. "Ich denke täglich daran", sagte Reich-Ranicki. Schon zu seinem 85.Geburtstag wurde "MRR", der mit seiner Frau Tosia seit vielen Jahren in Frankfurt lebt, von tiefer Melancholie ergriffen. "Ich bin kein glücklicher Mensch", meinte er damals.
Er sieht sich als Außenseiter. Wegen seiner harschen Urteile hat er sich unter den Schriftstellern wenig Freunde gemacht. Ein Streit mit Günter Grass geht auf seinen Verriss von "Ein weites Feld" (1995) zurück. Die Versöhnung folgte 2007, als er Grass als "nach wie vor bedeutendsten deutschen Schriftsteller" bezeichnete.
Auch den Konflikt mit dem Rhetorik-Professor Walter Jens beendete er 2004 . Grund für den Streit: Ausgerechnet Jens’ Sohn, ein Journalist, berichtete als erster über Reich-Ranickis Tätigkeit im polnischen Geheimdienst nach dem Krieg.
Eine Aussöhnung mit Martin Walser, der nach einem Roman-Verriss 1976 mit Reich-Ranicki brach, steht noch aus. Das Zerwürfnis gipfelte in Walsers umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers", das wegen AntisemitismusVorwürfen beinahe nicht gedruckt worden wäre. Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, unschwer als "MRR" zu erkennen. Das letzte Kapitel in der Geschichte der beiden großen alten Männer der deutschen Nachkriegsliteratur scheint also noch nicht geschrieben.