Mit Kuscheltier in den Gegenverkehr - Mordprozess gegen Falschfahrer
Ein offenbar Lebensmüder, der als Falschfahrer in den Gegenverkehr rast und dabei den Tod anderer Menschen in Kauf nimmt - was geht in dem vor? Die Frage beschäftigt seit Montag das Landgericht Aachen.
Aachen. Zweihundert Meter weit reicht das Trümmerfeld an jenem sonnigen Wintertag. Die Autobahn 4 von Köln nach Aachen ist bedeckt mit Fahrzeugwracks und Trümmerteilen. Ein Audi-Fahrer ist bereits tot, seine Frau wird später im Krankenhaus sterben. Mehrere Verletzte werden von Rettungsdiensten betreut. Ausgelöst hat das alles ein Falschfahrer. In seinem zerrissenen Wagen findet die Polizei einen handschriftlichen Abschiedsbrief: Demnach wäre der Mann also mit Absicht in den Gegenverkehr gerast.
Seit Montag muss sich der Mann nun vor dem Landgericht Aachen verantworten - wegen zweifachen Mordes und sechsfachen versuchten Mordes. Mit einem Rollator betritt der 47 Jahre alte Niederländer den Gerichtssaal: ein schmaler Mann mit weißem Haarkranz, man könnte ihn auch auf 70 schätzen. Er selbst war bei dem Unfall am 20. Januar lebensgefährlich verletzt worden.
Von seinem Anwalt lässt er eine Erklärung verlesen. „Ich weiß, dass dies unverzeihlich und nicht zu entschuldigen ist“, versichert er den Angehörigen. Bestimmt erwarteten sie jetzt eine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Auch er zermartere sich in einem fort das Hirn, aber: „Ich finde leider keine Antwort - keine Antwort für Sie und keine Antwort für mich.“ Weder an den Tag des Unfalls noch an die Wochen davor könne er sich erinnern: „Ich weiß nicht, was in der Zeit passiert ist.“
Er sei immer ein friedlicher Mensch gewesen - eine Beteuerung, die dadurch gestützt wird, dass er zuvor niemals straffällig geworden war. Auch Selbstmordabsichten hätten ihm fern gelegen. „Ich erkenne mich selbst nicht mehr.“ Ebenso wenig könne er erklären, warum er auf eine deutsche Autobahn auffuhr. Zwar hatte er als selbstständiger Elektrotechniker einige Zeit zuvor einen Auftrag im grenznahen Kreis Heinsberg erledigt, doch die Sache war abgeschlossen.
Auch die Biografie des Mannes scheint zunächst unauffällig. Er beschreibt sich als glücklich verheiratet, sein kleiner Betrieb lief nachweislich gut, Schulden hatte er nicht. Nur mit seiner Gesundheit stand es wohl nicht zum Besten: Im Oktober hatte er plötzlich Schwierigkeiten beim Sprechen, ein Mundwinkel hing herunter. Der Verdacht auf einen Schlaganfall bestätigte sich jedoch nicht. In seinem Abschiedsbrief - an den er sich auch nicht mehr erinnern kann - schrieb er: „Der Computer arbeitet nicht mehr, wie er sollte.“ „Computer“ war in der Familie ein anderes Wort für „Gehirn“.
Im Laufe der Befragungen zeigt sich, dass der Angeklagte in seinem Leben doch einiges durchgemacht hat. Ihm selbst scheint das gar nicht so bewusst zu sein. So sagt er zunächst aus, seine Kindheit sei glücklich gewesen. Später schildert er dann, dass er fünf Jahre im Internat war, was „eine schwere Zeit“ gewesen sei. Das Kuscheltier, das damals für ihn seine einzige Verbindung nach Hause darstellte, hatte er bei seiner verhängnisvollen Fahrt mit dabei.
In seiner direkten Umgebung gab es zudem zwei Suizide: Der eine liegt zwar schon 25 Jahre zurück, doch war es sein „großes Vorbild“, sein Schwager, der für ihn eine Art Ersatzvater gewesen sei. Fast alles habe er ihm zu verdanken. Ihr letztes Treffen wurde jedoch von dem Verdacht überschattet, dass der Schwager die Familie bestohlen haben könnte. Später brachte sich auch der beste Freund des Angeklagten um. Dies war ein Schlag, von dem er sich nach eigenen Worten bis heute nicht richtig erholt hat.
Ein Zeuge aus einem der entgegenkommenden Wagen will sich an den starren Blick, den leeren Gesichtsausdruck des Angeklagten erinnern. Das psychiatrische Gutachten steht noch aus. Es dürfte in diesem Verfahren von ausschlaggebender Bedeutung sein. dpa