Muss man nach Auschwitz?
Auschwitz ist zum Symbol für den Holocaust geworden. Ein Besuch an einem Ort ganz nah an der EM — und ganz weit weg vom Fußball.
Düsseldorf. Muss man nach Auschwitz fahren, wenn man in Polen ist? Soll man sich die weltbekannte Gedenkstätte des Holocaust ansehen, wenn man doch eigentlich wegen der Europameisterschaft gekommen ist?
Für Henning und Dominik ist das keine Frage, man muss Auschwitz sehen: „Natürlich, da brauchten wir gar nicht lange überlegen“, sagen die beiden jungen Männer. Sie sind Fans von Borussia Mönchengladbach, der Fußball bringt uns schnell ins Gespräch. In einem Camping-Bulli sind sie als EM-Touristen unterwegs, ohne Karten, aber mit Interesse am Land und an seinen Menschen. Schon am Vorabend sind sie angereist, haben auf dem Parkplatz übernachtet und nun die große Tour Auschwitz-Birkenau gebucht, für 20 Zloty (5 Euro) pro Person.
Wir warten mit Henning und Dominik im Eingangsbereich der Gedenkstätte. Hier stehen Automaten mit Kaffee, Sprudel und Snacks, hier sind die Kassen, Informationsstände und Ausgabestellen für Kopfhörer, hier wuselt die Schar der Besucher aus zig Ländern. Hier ist alles so, wie man es kennt von den großen Anziehungspunkten für Touristen. Alles normal.
Dann wird die Gruppe für die deutsche Führung aufgerufen. Wir passieren das Drehkreuz und treten nach draußen. Von jetzt an ist es mit jedweder Normalität vorbei. Als wir durch die Kopfhörer die monotone Stimme der jungen Polin hören, die uns zwei Stunden durch das Konzentrationslager führen wird, beginnt ein Ausflug in die monströsen Abgründe deutscher Geschichte. Allein hier ermordeten die Nationalsozialisten mindestens 1,1 Millionen Menschen.
Die junge Polin spricht ruhig, mit Akzent und ohne Emotion. „Zweck des Lagers war nicht Arbeit, sondern der Tod.“ — „Jüdische Kinder hatten von Anfang an kein Recht auf Leben.“ — „Die Alten und Schwachen wurden gleich nach der Ankunft aussortiert und getötet.“ Da ist keine Entrüstung, keine Anklage, wenn sie die Fotos, Gedenktafeln und Dokumente erklärt, die in den gleichförmigen Backsteinbauten ausgestellt sind.
Wir sehen Berge von Schuhen in riesengroßen Schaufenstern, die Koffer der Deportierten, die aus ganz Europa nach Auschwitz gebracht wurden. „Den Gefangenen wurden gleich nach der Ankunft die Haare geschoren. Das Haar wurde an Fabriken verkauft und zu Filz weiterverarbeitet.“ Zwei Tonnen Haare türmen sich in einem verglasten Raum. Wir schauen auf ein Meer aus Brillen, und der Schock springt uns an: Jede dieser Brillen trug ein Mensch, der hier misshandelt und gedemütigt, vergast und verbrannt wurde. An der Todeswand, wo Lagerinsassen willkürlich erschossen wurden, liegt ein Kranz mit einer Schleife des italienischen Fußballverbandes.
Keiner spricht, keiner fragt. Einem älteren Mann — er könnte die letzten Kriegsjahre noch miterlebt haben — bleibt vor Entsetzen der Mund offen stehen, als er auf den Fotowänden die unschuldigen Gesichter kleiner Kinder sieht, die den Betrachter mit erschrockenem, fragendem Blick anzuschauen scheinen. Und die wenige Momente später erschossen wurden. Einige haben Tränen in den Augen, eine Frau ballt die Faust, dass die Knöchel weiß hervortreten. Manche Gäste halten es nicht aus, gehen nach draußen und holen nur tief Luft.
Unter Glas liegen die unscheinbaren Dokumente einer Vernichtungsmaschinerie, die so systematisch funktionierte wie ein industrieller Produktionsprozess. Die Bestellscheine für das Giftgas Zyklon B, die Farbtafeln zur Kennzeichnung der Insassen von Jude über Zigeuner bis Homosexueller, die Karteikarten für jeden Insassen. Eiskalt und zufrieden hat der ehemalige Lagerkommandant Rudolf Höß bei seinem Prozess in Warschau die Effizienz von Auschwitz geschildert, bevor er zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. „Er kam noch einmal zurück nach Auschwitz“, sagt unser Guide — und zeigt auf den Galgen, an dem das Urteil gegen Höß vollstreckt wurde.
Eigentlich wollten wir noch mit Henning und Dominik sprechen, bevor es zum zweiten Teil der Führung weitergeht nach Birkenau. Wir wollen sie nach Eindrücken fragen, nach ihrer Betroffenheit. Doch es gibt keine Fragen mehr, und sie wollen auch nicht reden.
Wir glaubten, alles zu wissen über den Holocaust. Wir kannten die Zahlen, die Methoden, die Daten. Wir glaubten, verstanden zu haben, was hier zwischen 1940 und 1945 geschehen ist. Aber erst jetzt haben wir es gefühlt, empfunden, ja — erlebt. Deshalb muss man nach Auschwitz.