Junge soll qualvoll erstickt sein Mutter von totem Kind über mutmaßliche Mörderin: Sie hatte alle lieb

Hanau · Als Sektenchefin soll eine Frau einen ihr anvertrauten vierjährigen Jungen grausig umgebracht haben. Im Mordprozess sagt die Mutter des toten Kindes aus. Sie sagt kein böses Wort über die Angeklagte.

Die 72-jährige Angeklagte betritt mit ihrem Anwalt Matthias Seipel den Gerichtssaal. Die Anklage wirft der mutmaßlichen Sektenchefin Mord an einem damals vierjährigen Jungen vor.

Foto: dpa/Jörn Perske

Der Fall eines Jungen, der qualvoll in einem Sack erstickt sein soll, erregt auch mehr als 30 Jahre später noch großes Aufsehen. Doch das große Medieninteresse zum Auftakt im Mordprozess quittiert die Angeklagte mit demonstrativer Gelassenheit. Ruhig und selbstsicher präsentiert sich die 72-jährige Deutsche, als sie am Dienstagmorgen den Verhandlungssaal im Hanauer Landgericht betritt und auf der Anklagebank Platz nimmt. Während viele Angeklagte für gewöhnlich bei diesem Gang ihr Gesicht vor den Foto- und Filmkameras hinter einem Aktenordner verbergen, zeigt sie ohne Scheu ihr Gesicht.

Der rätselhafte Fall, um den es geht, liegt weit zurück. Die mutmaßliche Sektenchefin soll den vierjährigen Jungen, der in ihrer Obhut gestanden haben soll, am 17. August 1988 in einem über dem Kopf zusammengebundenen Leinensack eingeschnürt, im Badezimmer ihres Wohnhauses abgelegt und seinem Schicksal überlassen haben. Die Angeklagte soll den Jungen als „von den Dunklen besessen“ angesehen und deshalb beschlossen haben, ihn zu töten, so die Anklage. Sie habe ihn auch als „Schwein“ und „Reinkarnation“ Hitlers bezeichnet.

Laut Anklage soll der in den Sack geschnürte Junge im Badezimmer panisch geworden und laut um Hilfe geschrien haben. Doch die Angeklagte habe ihm entgegnet, seine Eltern hätten das Haus verlassen. Er könne das „Schaugebrüll“ sein lassen, alle seien fort. Sie gehe nun raus in den Garten, „es hört dich keiner“. Als sie das Badezimmer verlassen habe, habe sie Fenster und Tür geschlossen, damit der Junge an dem heißen Sommertag keine frische Luft bekomme.

Der Junge sei nach einem „erbitterten Todeskampf“ im Badezimmer gestorben, sagte Oberstaatsanwalt Dominik Mies. Als der Junge aufgehört habe zu schreien, habe die Angeklagte ihr „niederträchtiges Ziel“ erreicht. Die Staatsanwaltschaft sieht das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt, zudem sieht sie auch niedrige Beweggründe.

Nach Zeugenaussagen hatten die Eltern das spätere Opfer der Frau zur Beaufsichtigung gegeben. Die Mutter des toten Kindes sagte als Zeugin, sie seien befreundet gewesen und hätten das Kind häufig bei dem Paar gelassen. „Wir wussten unser Kind dort gut aufgehoben.“

Die Mutter des Toten richtete zu Beginn ihrer Aussage keine böses Wort und keine Vorwürfe an die Angeklagte, selbst Mutter von vier Kindern. „Ich habe sie immer bewundert für ihren geduldigen Umgang mit den Kindern. Sie hatte alle Kinder lieb.“ In dem Haus sei niemand brutal behandelt worden. Doch es habe auch mal einen Klaps gegeben, weil Kindern ja Grenzen gesetzt werden müssten.

Die Angeklagte äußerte sich zum Prozess-Auftakt nicht. Die grauhaarige Frau wirkte emotionslos. Ihre Anwälte verlasen eine Erklärung und wiesen den Mordvorwurf zurück. Es habe keine Tötungshandlung vorgelegen. Der in der Anklage geschilderte Tatablauf sei „reine Spekulation“. Unklar sei auch die genaue Todesursache.

Eine Obduktion wurde nach dem Tod des Jungen im Jahr 1988 nicht vorgenommen. Die Ermittler gingen damals davon aus, dass er an erbrochenem Haferbrei vom Mittagessen erstickt sei. Ergebnis: keine Fremdeinwirkung. Dies bestätigte am Dienstag auch der erste Zeuge - ein heute 75 Jahre alter, ehemaliger Kriminalhauptkommissar, der aber große Erinnerungslücken offenbarte. Die Angaben der am Todestag im Haus Anwesenden - unter anderem die Angeklagte und ihr Mann - wurden alten Protokollen zufolge damals unkritisch zur Kenntnis genommen.

Die Beamten hielten damals eine andere Version der Abläufe fest. So sei der Junge nach einem Mittagsschlaf auf einer Matratze in einem Kinderzimmer - und nicht im Badezimmer - des Hauses gefunden worden. „Wir hatten keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden und keine Zweifel, dass es ein Unglücksfall war“, sagte der Ex-Beamte.

Auch im Nachhinein kamen den Ermittlern keine Zweifel, als mehr Informationen bekannt waren. Der rund viereinhalb Jahre alte und 1,05 Meter große Junge soll zur Todeszeit laut Protokoll nur 14 Kilogramm gewogen haben. Und Nachforschungen zufolge lag der letzte Kinderarztbesuch vor dem Tod zwei Jahre und sieben Monate zurück.

Aufgerollt wurde der Fall 2015 durch neue Aussagen von ehemaligen Mitgliedern der Sekte. Welcher Art die Gruppe war, wurde zum Auftakt nicht groß thematisiert. Die Mutter des Toten sagte, die Angeklagte habe Erfahrungen mit Gott gemacht, die auch ihr geholfen hätten. Voller Wertschätzung sagte sie über die mutmaßliche Mörderin ihres Kindes: „Sie ist wie eine Schwester und gute Freundin für mich.“

(dpa)