Schäfer Martin Winz: „Ich bin der Dirigent“

Der Beruf des Schäfers wandelt sich. Die Bedeutung der Schafhaltung hat sich drastisch verändert. Es gibt immer weniger Schafe und immer weniger Schäfer. Wegzudenken sind beide nicht. Ein Besuch auf der Weide.

Foto: Detlef Finger/BauernZeitung/dpa

Krosigk. Martin Winz stützt sich auf seinen hölzernen Stab. Er steht bequem, das knubbelige Ende klemmt in der rechten Achselhöhle, das Schäufelchen vorn steckt halb im Boden. Sein wacher Blick streift über hartes Süßgras und wilde Orchideen.

Es regnet. Das Wasser tropft ohne Unterlass von der braunen Hutkrempe auf seine Hände. „Schafe fressen nicht gern bei Regen“, sagt er, ohne den Blick von der hügeligen Landschaft abzuwenden. Von der Herde dringt dennoch das Geräusch des reißenden Trockengrases herüber. Sie zupfen, ziehen, beißen — 420 hungrige Schafe inmitten des Naturparks „Unteres Saaletal“ in Sachsen-Anhalt.

Martin Winz ist Schäfermeister. Ein drahtiger Mann, dem seine 66 Lebensjahre nicht anzusehen sind. 50 Jahre ist er schon Schäfer — ein halbes Jahrhundert zwischen blökenden Paarhufern, faszinierenden Landschaften und Einsamkeit an der frischen Luft. Längst hat er das Rentenalter überschritten, ans Aufhören hat er noch nie gedacht. „An trockenen Tagen bestimme ich, wo es langgeht, bei schlechtem Wetter tun es die Schafe“, sagt er. „Sie fressen bei Nässe schon nicht gut, da kann ich sie nicht auch noch von A nach B scheuchen. Aber sonst bin ich der Dirigent in diesem Unternehmen.“

Heute sind die Schafe die Bestimmer. Weil es seit Stunden regnet, haben sie sich für Ruhe und Gelassenheit entschieden. Stillstand kommt aber trotzdem nicht infrage. „Wir müssen schon ein bisschen ziehen“, sagt Martin Winz. „Überall, wo die Schafe gelaufen sind, fressen sie nicht mehr.“

Die Hütehunde „Lump“ und „Simpel“ haben die Herde im Blick. Sie halten die Schafe auf der Fläche, die gerade beweidet werden soll. Sonst würde die Herde laufen, laufen, laufen. „Sie machen an einem Tag 80 bis 90 Kilometer“, sagt der Schäfermeister. Er und seine Söhne Christian (35) und Michael (33) haben zusammen das Kommando über 1500 Mutterschafe und Zuchtböcke, 50 Ziegen und mehrere Esel. Sie sind Mitarbeiter des Landguts Krosigk nördlich von Halle, das neben Feldbau und einem Pferdehof auch eine Schäferei betreibt.

Als Landschaftspfleger ziehen die Schafherden durch die Weidegebiete. Sie erhalten die geschützten Heide-, Trocken- und Halbtrockenrasen mit ihren seltenen Pflanzen und Tieren. Ohne die sanfte Beweidung würden niedrigwüchsige Pflanzenarten schnell von hochwüchsigen Gräsern und Stauden überwachsen und verdrängt. Außerdem wird Zucht betrieben und die Schafwolle verkauft. Der Wollertrag decke nicht einmal den Schurlohn, sagen die Schäfer.

Die unzusammenhängenden Weideflächen im Revier der Familie Winz sind rund 400 Hektar groß, dazwischen liegt fruchtbares Ackerland. Die Schäferstadt Wettin, in der es die einzige Schule für die Schäferausbildung in der DDR gab, ist nicht weit. Früher, und damit meint der Senior-Schäfer die DDR-Zeit, habe es in der Region gut 75 Schafherden gegeben, die je im Wechsel von bis zu drei Schäfern betreut wurden.

Heute seien es noch fünf Herden, um die sich ein Schäfer kümmert — drei Herden haben allein Winz und seine Söhne. „Viele hüten nicht mehr, die koppeln nur“, sagt Martin Winz. Soll heißen: Die Schafe weiden in einem eingezäunten Bereich. Kein Schäfer, keine Hunde. Die drei Herden von Winz sind von März bis Dezember draußen. Nachts stehen sie in einem Pferch, der jeden Tag neu aufgebaut wird. Tagsüber ziehen sie umher. Wie früher.

Die Vereinigung Deutscher Landesschafzuchtverbände (VDL) hat ihre Internetseite www.schafe-sind-toll.com genannt. Ein klares Statement. Nachwuchsgewinnung ist ein großes Thema. Das Ziel: Der Schäferberuf muss attraktiver werden. In Sachen Nachwuchsarbeit macht dem Landgut Krosigk und seiner Schäferei niemand etwas vor.

Christian Winz war 2005 als 26-Jähriger der jüngste Schäfermeister Deutschlands. Jetzt ist die einzige Nachwuchskraft bei den Winz-Schäfern eine Frau. Laura Trappschuh ist 19 Jahre alt und kommt aus dem Erzgebirge. Auf ihrem Ausbildungsvertrag steht „Tierwirt/in Schäferei.“ Sie dirigiert die Hunde, ihr Ausbilder gibt ihr immer wieder Tipps.

Seit Jahren gehen die Zahlen der Berufsschäfer und der Schafe zurück. In Sachsen-Anhalt, dem Heimatland der Schäferfamilie Winz, hat sich die Zahl der Schafe vom Jahr 2000 bis 2013 nahezu halbiert, aktuell gibt es dort etwa 74 000, sagt das Statistische Landesamt.

Parallel zu dieser Entwicklung trennen sich auch immer mehr landwirtschaftliche Betriebe von der Schafhaltung. „Wir sind Auslaufmodelle“, kommentiert Schäfer Winz. Was wünscht sich ein Mann, dem sein Beruf zur Lebensaufgabe geworden ist? „Dass ich hier draußen bei den Schafen irgendwann meine letzte Ruhe finde“, sagt der Schäfer.