Freilerner Schule zu Hause — das bleibt Lia verwehrt

Die Eltern der 13-jährigen Autistin sind verzweifelt. Der normale Unterricht scheint unmöglich. Und „Freilernen“ ist verboten.

Wuppertal. Wenn am Mittwoch die Schule wieder startet, bleibt Lias Stuhl im Klassenzimmer leer (Name von der Redaktion geändert). Die 13-Jährige ist krankgeschrieben; ihre Eltern haben „die Notbremse gezogen“, sagt Vater Markus Kramp (Name geändert). Vorm Lernen auf Knopfdruck, Benotung aus Willkür, dem gesamten Schulsystem. Aus Angst vor Verurteilung und rechtlichen Konsequenzen will die Familie aus Wuppertal anonym bleiben.

Montessori, Regel- oder Waldorfschule: „Wir kommen mit dem System nicht klar, egal welche Schulform wir wählen“, sagt Kramp. Hinter der Familie liegt ein jahrelanger, kräftezehrender Kampf ums Aufstehen, Hausaufgaben machen, Lesen, Schreiben, Rechnen lernen. „Seit Lia in der Schule ist, gibt es Probleme.“ Und seitdem verzweifelte Gespräche mit Ärzten, Psychologen, dem Jugendamt.

Über Lia, die Autistin, der die Psychologen jetzt auch eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) attestierten. Markus Kramp öffnet die Tür zum Zimmer seiner Tochter. Bücher und Zeitschriften, CDs und Schminkutensilien liegen auf dem Boden verstreut — ein symbolischer Zustand. „Genau so ein Chaos herrscht in unserem Leben.“

Für Kramps Wunsch, die „natürliche Neugierde unserer Tochter ohne Zwang zu fördern“ und Lia mit seiner Frau zu Hause zu unterrichten, gibt es einen Namen: Freilernen. Nur: In Deutschland ist das verboten.

„In anderen Ländern hat ein Kind ein Recht auf Bildung, bei uns die Pflicht, in die Schule zu gehen“, sagt Stefanie Mohsennia. Die 47-jährige Erkratherin hatte sich 2005 dazu entschieden, ihren Sohn nicht einschulen zu lassen. Stattdessen war sie nach Kanada ausgewandert, um den damals Sechsjährigen Julian selbst zu Hause zu unterrichten. Sie findet: „Schulpflicht ist nicht mehr zeitgemäß, wir stehen damit in Deutschland ziemlich alleine da.“

Heute leben Mohsennia und ihr erwachsener Sohn wieder in NRW. Gemeinsam haben sie die Schulfrei-Community gegründet. Etwa 3000 Kinder bundesweit sind Mohsennias Schätzungen zufolge derzeit Freilerner. Den Eltern dieser Kinder drohen rechtliche Konsequenzen, die auch Markus Kramp und seine Frau fürchten: „Wenn wir unsere Tochter nicht mehr zur Schule schicken, steht das Jugendamt schnell vor der Tür. Das Risiko eines Sorgerechtsentzugs wollen wir nicht eingehen.“

Den Gedanken, in Wuppertal alle Zelte abzubrechen und auszuwandern, nach Belgien etwa, wo Freilernen erlaubt ist, haben Kramp und seine Frau schon etliche Male durchgespielt. „Wir wären dann Schulflüchtlinge, dabei wollen wir gar nicht aus Deutschland weg.“ Eine andere Idee, aufs Land zu ziehen, an den Niederrhein nach Issum, wo ehemalige Lehrer in einem alten Schulgebäude freies Lernen möglich machen, scheitert schon an der Warteliste.

Dann gibt es da noch Online-Unterricht via Skype oder E-Mail, wie ihn nur jugendliche Straftäter oder Kinderstars auf Welttour wie Tokio Hotel bekommen. Doch das ist mit 800 Euro im Monat nicht nur ein finanzielles Problem für die Familie, sondern auch keine in Deutschland anerkannte Ersatzschule, weil die Schüler nicht in einem Klassenraum unterrichtet werden. „Die fehlende Möglichkeit, auch bei dieser Form der Beschulung, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, würde uns ohnehin unzufrieden machen — und mit uns einige Tausend andere, die gerne ihren eigenen Bildungsweg gehen würden“, sagt Kramp. Kurz vor Schulbeginn sei die Verzweiflung besonders groß: „Ich möchte meinem Kind nicht mehr vorschreiben, wann es was zu lernen hat“, betont der 47-Jährige. „Dabei beobachten wir, dass Lia Informationen wie ein Schwamm aufsaugt.“

Dann gibt es an Kramps Küchentisch Diskussionen übers Bruchrechnen und Wurzel-Ziehen. „Sie lernt blitzschnell, wenn sie es will, vernichtet aber unheimlich viel Energie, wenn sie es muss.“ Auf Lias Schule habe man sich auf „besondere Kinder“ wie die 13-Jährige Autistin spezialisiert. Lösen könne man ihr Problem dort aber nicht, glaubt Kramp. „Sie hasst Montag bis Freitag. Nach der Schule ist sie erschöpft und vegetiert den restlichen Tag vor sich hin.“

Schon in der Grundschule habe seine Tochter sicher „85 Prozent der Schulzeit auf dem Gang verbracht. Lias’ Strategie ist es, aufsässig zu werden. Für die Lehrer ist es schwierig, wenn einer den Rest der Klasse aufmischt“, sagt der Vater. Psychologische Gutachten attestierten der 13-Jährigen überdurchschnittliche Intelligenz, „bei Routineaufgaben ist Lia aber unterdurchschnittlich. Wenn ihr langweilig ist, schaltet sie ab“.

Kurz vor Schulstart gibt es kaum einen Hoffnungsschimmer für Familie Kramp: Der Wunsch, einfach weg zu ziehen, ‘raus aus der Enge der Reihenhaussiedlung, weg von den Nachbarn, die tuscheln, dieser Wunsch wächst stetig. Dass Lia auf unbestimmte Zeit nicht zur Schule muss, sei eine Erleichterung, aber längst kein Erfolg auf dem Weg zum selbstbestimmten Lernen, sagt Markus Kramp. „Wir sind so erschöpft und leergepumpt, dass uns momentan die Kraft fehlt, weiter Mut zu haben.“