Tanzen wie in den 20ern - Swing erobert Deutschland

Bremen (dpa) - Knickerbocker, Schiebermütze und immer locker in der Hüfte - auf Partys und in Tanzschulen werden die 30er und 40er wieder lebendig. Man tanzt Swing und schwelgt in guten alten Zeiten.

Wer denkt da noch an die Finanzkrise?

Vicky Rummels gesamter Körper schwingt. Sie kickt ihre Füße nach vorne und wirbelt mit kleinen Drehungen übers Parkett. Die Feder am Hut wippt fröhlich im Takt mit, das geblümte Kleid flattert um ihre Beine. Rummels tanzt Swing - und das mit voller Hingabe. „Da kann man die Sau rauslassen.“ So wie ihr geht es zurzeit vielen Tanzwütigen. Deutschland hat das Swing-Fieber gepackt.

In Berlin, Hamburg, Frankfurt und München trifft sich die Szene bei mondänen Retro-Partys, Tanztees oder Workshops am Badesee, zeitgemäß gestylt mit Knickerbockern, Schiebermütze, nostalgischen Kleidchen und neckischen Hüten. Aber auch in anderen Städten bieten immer mehr Tanzschulen Swing-Kurse an. „Die Nachfrage ist stetig steigend“, sagt Daniel Zambon vom Deutschen Tanzlehrerverband.

Das kann auch Vicky Rummel bestätigen. Sie unterrichtet Swing, besser gesagt Lindy Hop, in Bremen. Denn das ist das erste, was ihre Schüler lernen: Swing bezeichnet eigentlich nur die Musikrichtung, zu der sich verschiedene Tänze entwickelten. Ende der 20er begann es mit den Charleston, dann kamen Lindy Hop und später der Boogie-Woogie.

Einmal im Monat lädt die Swing-Kantine zum Abtanzen im Stil der 20er bis 40er Jahre. Vorher zeigen Rummel und ihre Kollegin Nicole Housen Einsteigern in einem halbstündigen Crashkurs die ersten Grundschritte. Rückschritt, Kick, Kick - Rückschritt, Kick, Kick. „Das ist kein Karate“, ermahnt Rummel einen etwas zu eifrigen Tänzer. Aber insgesamt klappt es schon ganz gut. Also noch eine Drehung hinten dran, und noch eine.

Jörg Riedel und seine Tanzpartnerin schlagen sich tapfer. „Es ist nicht so schwer. Man kommt schnell rein“, meint der Swing-Novize. Später, als die Könner bereits den Saal erobert haben, drehen beide weiterhin fleißig ihre Runden. Ein paar Schritte, eine Drehung, hier und da eine Variation - beim Swing können selbst Anfänger eine gute Figur auf der Tanzfläche abgeben.

Das macht nach Ansicht von Experte Zambon auch seinen Charme aus. „Es gibt keine falschen Tanzschritte. Es geht mehr darum, die Musik zu interpretieren.“ Swing ist überschwänglich und ungezwungen, er steht für die wilden 20er, die Anfänge der Pop-Kultur, Glamour und opulente Feste - ein Lebensgefühl, das heute vielen erstrebenswert erscheint.

Eskapismus nennen Psychologen diese Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten. Diese verstärke sich während Krisen, wenn Bewährtes plötzlich hinterfragt werde, erläutert Jürgen Margraf von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. „Dann fliehen manche Menschen auch durchaus in ferne Zeiten, zumal sie dann keine eigenen korrektiven Erfahrungen haben, die eine idealisierte Sicht der früheren Zeiten beeinträchtigen könnten.“

Schnelllebige Trends, die Wirtschaft auf Berg- und Talfahrt und ständig neue Katastrophenmeldungen aus aller Welt - viele Leute haben das Gefühl, nicht mehr mitzukommen. Da kommt eine Zeitkapsel, mit der man einfach abtauchen kann, gerade Recht. „Man versucht dadurch unbewusst, sich zu entschleunigen und zu entstressen“, erläutert die Hamburger Trendforscherin Antje Schünemann.

Dadurch werden auch Werte, die eigentlich als verstaubt galten, wieder cool. Die Männer haben wieder Manieren und halten Frauen die Tür auf, ohne dass diese das als Affront gegen ihre Emanzipation verstehen. Zu einem klassischen Tanzkurs würde Judith Janiszewski trotzdem nie gehen. „Das hat so was Angestrengtes.“ Seit eineinhalb Jahren lernt sie in Bremen Swing. „Ich mag das Lockere, das viele Rumgehopse“, sagt die 33-Jährige.

Dann schnappt sie sich ihre Tanzpartnerin und wirbelt mit ihr übers Parkett. Denn trotz Hype gilt beim Swing dasselbe wie in anderen Tanzkursen: Männer sind oft Mangelware.