Geboren aus der Irritation Umzug nach Athen „rettet die Idee der documenta“
Kassel/Athen (dpa) - Auf dem Syntagma-Platz in Athen nähen junge Menschen mit grobem Faden und dicker Nadel Jutesäcke zusammen. Ibrahim Mahama, einer der rund 160 Künstler der documenta 14, näht mit.
Aus einzelnen Flicken, die ihre Geschichte haben, erklärt der Performance-Künstler aus Ghana, wird auf einem Platz, der seine Geschichte hat, mit der Zeit ein gemeinsames Ganzes.
Mit Spannung war erwartet worden, ob das funktioniert, die documenta in Athen stattfinden zu lassen. Die Vorbereitung, gibt der künstlerische Leiter Adam Szymczyk zu, waren „qualvoll und schwierig“. Zwei Tage lang durften sich Presse und Fachbesucher ihr Urteil bilden. Wie kommt die documemta in Athen an?
In den griechischen Zeitungen, die anfangs recht kritisch waren, wird der Ton freundlicher. „Kathimerini“ vergleicht die Bedeutung der documenta für Athen sogar mit den Olympischen Spielen: „Wegen der documenta sind bereits viele tausend Künstler, Journalisten und Kunstkritiker in der Stadt - es erinnert an das Fieber von 2004.“
„Die weltweit führende Ausstellung verwandelt Athen in eine Kunstwerkstatt“ und „von Samstag an wird Athen zum Freiluftmuseum“ schreiben andere Blätter und geben Tipps, was man nicht verpassen sollte. Viele Athener haben von der documenta noch gar nichts mitbekommen. Man habe andere Sorgen, kommt oft als Antwort - die Wirtschaftskrise hat die Griechen fest im Griff.
Auf dem Kotzia-Platz hat der in Pakistan geborene Rasheed Araeen ein Zelt aufgebaut. 60 Menschen können zwei Mal am Tag dort kostenlos essen. Heute gibt es einen traditionellen griechischen Bohneneintopf. Täglich fünf Minuten vor 11.00 und 14.00 werden die Plätze vergeben. „Food for Thought“ nennt er seine Kombi aus Menschen-Zusammenbringen, Armenspeisung und Happening.
Vor den Zelten läuft die Museumsdirektorin Susanne Gaensheimer, noch in Frankfurt und bald in Düsseldorf tätig. Sie befolgt mit ihrer Familie Szymczyks Rat, sich einfach durch die Stadt treiben zu lassen. „So lernt man auch gleich Athen kennen“, sagt sie. Das Essens-Event gefällt iht gut: „Sehr schön, wie die Menschen mit einbezogen werden.“ Zwei der vier Haupt-Locations hat sie schon besucht. Was sie dort gesehen hat „macht neugierig“.
Neben dem Museum für zeitgenössische Kunst (EMST), das in großen leeren Räumen sperrige Werke ohne weitere Erklärungen zeigt, hat sich schon am zweiten Tag das Konservatorium zum Hotspot der documenta 14 entwickelt. Scharen junger Leute sind hier unterwegs. Die beiden weiter außerhalb gelegenen Locations, das Benaki-Museum und die Kunsthochschule, sind deutlich schwächer besucht.
Die Australierin Bonita Ely macht dort aus Plastikmüll Lebewesen der Zukunft und beschreibt sie auf kleinen Tafeln wie Tiere im Zoo. Die israelische Künstlerin Roee Rosen lässt den Besucher durch Text und Bilder eintauchen in die Gedankenwelt von Hitlers Lebensgefährtin kurz vor dem Tod im Führerbunker. „Ein illustriertes Manuskript für ein nie realisiertes Virtual-Reality-Spiel“ nennt die Künstlerin das Werk „Live and die as Eva Braun“.
Von den documenta-Kunstwerken, die er bisher gesehen hat, hat dieses Vinzenz Brinkmann am meisten beeindruckt. Der Archäologe leitet die Antikensammlung des Frankfurter Liebieghauses, hat aber auch eine Wohnung in Athen. Die antike Stadt hat er „bis auf die Knochen erforscht“, die heutige kennt er wie ein Einheimischer.
„Szymczyk rettet die Idee der documenta“, sagt er. In Kassel habe es gewisse „Abnützungsfaktoren“ gegeben, „die muss man überwinden“. Zu viel Glätte, zu viel Event. Die Ausstellung sei geboren „aus der Irritation heraus“. Der polnische Kurator habe das erkannt und „der Idee des Widerständigen neue Kraft gegeben“.
Wie das „Duell“ zwischen den beiden documenta-Standorten Athen und Kassel ausgeht, wird man erst sehen, wenn auch der zweite Teil der Ausstellung geöffnet ist. Bili Bidjocka aus Kamerun hat in der Kunsthochschule ein riesiges Schachspiel aufgebaut. Dort spielt virtuell Kassel gegen Athen. Spieler in beiden Städten dürfen im Internet Züge vorschlagen.