„Urban Exploring": Die Magie der vergessenen Orte
„Urban Exploring“ heißt ein Hobby, bei dem Abenteuersuchende verlassene Bunker, Villen und Fabriken aufspüren. Ein Willicher gibt Einblicke in die Szene.
Düsseldorf. Nicolas R. ist auf der Suche nach den Dornröschen unserer Zeit. Verfallene, vergessene, verwunschene Gebäude, die seit Jahren nicht mehr von Menschen betreten wurden, obwohl sie mitten unter uns sind. „Urban Exploring“ heißt das ungewöhnliche Hobby des 22-Jährigen aus Willich, das bislang nur einer kleinen, verschwiegenen Szene bekannt war.
Nicolas erklärt: „Die meisten Menschen nehmen die vergessenen Orte gar nicht wahr. Sie laufen über Plätze unter denen Bunkeranlagen sind oder gehen achtlos an verlassenen Häusern vorbei. Mir fällt inzwischen jede Tür im Mauerwerk auf.“
Der „Urban Explorer“ erforscht seit fünf Jahren leer stehende Villen mit morbidem Charme, verfallene Kraftwerke mit Gruselfaktor, Heilanstalten, Fabriken und Bunkeranlagen — eben alle Bauwerke, die von ihren Besitzern aufgegeben wurden. Und das sind so viele, dass der Willicher fast jeden Abend neue Fotos von seinen Entdeckung auf seiner Facebook-Seite „die verlassenen Orte“ veröffentlichen kann.
Mehr als 58 500 Menschen folgen ihm inzwischen und betrachten seine Bildergalerien regelmäßig. Sie alle erzählen Geschichten von Vergänglichkeit. Manchmal wecken sie Wehmut, etwa bei dem verfallenen Schloss, dessen alter Glanz noch durch die Risse im Mauerwerk hindurch blitzt.
Manchmal schockiert gerade der gute Erhaltungszustand, wie etwa in der voll ausgestatteten Klosterkirche, in der jeden Moment eine Messe stattfinden könnte, obwohl sie längst aufgegeben wurde.
Zum Teil wähnt sich der Betrachter aber auch in einem Psychothriller, wie etwa bei der ehemaligen Lungen-Heilanstalt mit den langen gekachelten Gängen, wo Vorhänge vor längst eingeschlagenen Fenstern wehen. Oder der Arztvilla, in der noch Gläser mit medizinischen Präparaten stehen.
In allen Fällen fragt sich der Betrachter, welche Schicksale sich wohl hinter diesen Mauern abgespielt haben mögen. „Mich treibt der Reiz an, Überraschendes zu entdecken. Manchmal will ich schon wieder meine Sachen zusammenpacken. Doch dann gehe ich doch noch einen Raum weiter und entdecke plötzlich zurückgelassene Gerätschaften oder Maschinen“, beschreibt Nicolas seinen Antrieb.
Seinen vollen Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn der Automobilkaufmann kommt stets als ungebetener Gast, meldet sich nicht vorher bei den Besitzern der Gebäude an.
Als Einbrecher fühlt er sich dennoch nicht. „Ich breche nirgendwo ein, zerstöre nichts und nehme auch nichts mit. Zudem hinterlasse ich die Orte oft besser verschlossen als vorher“, sagt der 22-Jährige.
Wie er in die Gebäude und Bunkeranlagen reinkommt? „Es findet sich immer ein Loch im Zaun oder ein geöffnetes Fenster.“ In Schwierigkeiten ist Nicolas noch nie geraten, obwohl er schon einmal von Wachleuten und der Militärpolizei erwischt wurde. Im ersten Fall ließen ihn die Sicherheitsleute gewähren. Im zweiten Fall musste er all seine Bilder löschen.
Das Umherwandern in maroden Gebäuden birgt aber noch andere Gefahren. Einmal schlug direkt neben Nicolas ein abgebrochenes Teil einer Dachkonstruktion ein. Er blieb unverletzt, verließ den Ort aber sofort.
Zum Ehrencodex der „Urban Explorer“ gehört es, niemals Außenstehenden zu verraten, wo sich die Gebäude befinden. „Ich will nicht, dass diese Orte zerstört werden, indem dort Kabeldiebe, Sprayer oder Vandalen einfallen“, sagt Nicolas, der deshalb täglich hunderte Nutzerkommentare auf seiner Facebookseite auf Ortsangaben überprüft.
Er selbst nimmt 3000 Fahrtkilometer und Spritkosten von bis zu 300 Euro im Monat in Kauf, um etwa verlassene Schlösser in Belgien aufzuspüren. Inzwischen wird er von seiner Lebensgefährtin Imke begleitet, die gemeinsam mit ihm Luftbilder und alte Karten nach steinernen Dornröschen absucht.
Um ihr Hobby zu finanzieren will das Paar in diesem Jahr einen Bildband herauszugeben. Auch ein erster potenzieller Ausrüstungssponsor hat sich gemeldet. Nicolas weiß: „Früher war das eine ganz kleine Szene. Aber sie wird größer.“