Wenn der Arbeitsstress krank macht
In Werkstätten für Behinderte landen inzwischen auch viele, die dem Leistungsdruck im regulären Job nicht mehr gewachsen sind.
Köln. Konzentriert zieht Heike Herrmann den Stoff mit ihren Fingern unter der ratternden Nadel durch. Die 53-Jährige näht an einer Schürze, ruhig und besonnen. Stress macht ihr in der Näherei niemand. „Wir arbeiten in dem Rhythmus, wie wir können.“ Früher arbeitete Herrmann jahrelang als Masseurin, viel mit Krebspatienten. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Sie war überfordert, fühlte sich überflutet. Herrmann geriet in eine depressive Phase. Seit etwa sechs Jahren arbeitet sie in der Alexianer-Werkstatt in Köln-Porz.
Nach Angaben der Landschaftsverbände wächst in NRW die Zahl der Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte. 2016 waren es demnach rund 70 500 — etwa 29,6 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Dabei sei vor allem der Anteil der psychisch Behinderten gestiegen — von rund 14,6 Prozent auf etwa 20,2 Prozent. Als psychisch oder seelisch behindert gelten etwa Autisten oder Menschen, bei denen zum Beispiel in Folge einer Psychose oder einer chronischen Depression die Arbeitsleistung gemindert ist.
Leistungsdruck und Überforderung auf dem regulären Arbeitsmarkt sind aus Sicht von Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ein Grund dafür. Parallel steige die Zahl der psychischen Erkrankungen. Oftmals schieden seelisch Behinderte dann aus ihrem Job aus und kämen in eine Werkstatt — wo sie häufig auch bleiben.
Für Löb ist die Sache klar: „Wir müssen eine Lösung finden, Menschen, die nicht mehr 100 Prozent der Arbeitsleistung bringen können, in Arbeit zu halten.“ Zwar sei die Behindertenwerkstatt für viele „eine tolle Einrichtung“, weil sie auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance hätten. Aber: „Eine Werkstatt ist eine Sonderwelt.“ Der Gedanke der Inklusion sei jedoch, die Trennung dieser Welten zu durchbrechen. In den sieben Alexianer-Werkstätten in Köln arbeiten rund 1000 Menschen vor allem mit psychischer Behinderung. In Seminaren und Praktika werden sie gefördert, um irgendwann in den regulären Arbeitsmarkt oder eine Inklusionsfirma zu wechseln — berufliche Rehabilitation sozusagen.
Doch das ist nicht ganz einfach. „Die Vermittlungsquote liegt bei etwa einem Prozent“, sagt Adam Blana, Leiter Sozialer Dienst bei den Alexianern. Oftmals könnten die Betroffenen einfach nicht: Sie fühlten sich für die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht bereit. Etwa mit Praktika würde versucht, sie langsam wieder heranzuführen.
Matthias Löb, Direktor des LWL
Auch Heike Herrmann ist unschlüssig. Wieder als Masseurin arbeiten? Sie überlege schon, räumt Herrmann ein. „Der Kampf ist immer noch da.“ Auch Norbert Kanikowski hat manchmal Sehnsucht nach seinem früheren Job als Krankenpfleger. Seit neun Jahren arbeitet der 60-Jährige in der Alexianer-Gärtnerei in Porz, nachdem er in eine Psychose geraten und in der Folge mehrere Jahre arbeitslos war. Auf dem regulären Arbeitsmarkt wäre die Belastung aber zu groß, sagt er.
Im vergangenen Jahr zählten die Landschaftsverbände etwa 330 Wechsler. Möglich wurde das durch Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber, Schweiß und Mühe: „Wir erleben täglich, dass wir uns für jeden Arbeitsplatz, den wir schaffen oder erhalten wollen, richtig reinknien müssen“, sagt Löb. Immerhin: Die Dynamik des Wachstums der Beschäftigten in den NRW-Behindertenwerkstätten geht seit einigen Jahren zurück.
Die Behindertenbeauftragte der Landesregierung, Claudia Middendorf (CDU), betont, dass auch die Werkstätten bereit sein müssten, ihre Leute gehen zu lassen. Manche täten sich schwer damit, weil neben dem pädagogischen Auftrag auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle spielten. Aber auch die Unternehmen sind in der Pflicht. „Wir müssen an Arbeitgeber appellieren, sich zu trauen“, sagt Löb.
Größere Betriebe müssen in Deutschland fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen, sonst wird eine Strafe fällig. In NRW lagen die Arbeitgeber laut Bundesarbeitsagentur 2015 knapp darüber. Middendorf fordert zudem, dass sich mehr Unternehmen für Außenarbeitsplätze öffnen — also ausgelagerte Werkstatt-Gruppen, innerhalb derer die Beschäftigten ihrer Tätigkeit in regulären Betrieben nachgehen. Werkstätten sind nach Meinung der Politikerin aber auch für Menschen mit psychischer Behinderung nach wie vor wichtig, weil sie dort eine Tagesstruktur bekämen und „überhaupt arbeiten können“.
Auch Heike Herrmann und ihre Kollegen schätzen die Werkstatt sehr. „Ich fühle mich richtig wohl hier.“ Über ihren Weg und ihre Erkrankung berichtet sie auch deshalb, weil sie hofft, dass sich etwas ändert. „Diese Erkrankungen sieht man nicht“, sagt sie. „Darüber muss öffentlich geredet werden.“