Der Tag, der Europa in den Krieg stürzt

Der Mord eines 19-Jährigen Serben an Österreichs Thronfolger löste den Ersten Weltkrieg aus. Wer die Schuld an ihm trägt, ist umstritten.

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Berlin. Der erste Attentäter verfehlte sein Ziel nur knapp: Am 28. Juni 1914 gegen zehn Uhr entkommt der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo um Haaresbreite einem Bombenanschlag. Mit dem Arm wehrt der Thronfolger den Wurf ab, das Geschoss fällt hinter seinen Wagen, detoniert und verletzt einige Begleiter. Der Besuch wird fortgesetzt. Nach einem Empfang besteht Franz Ferdinand darauf, einen der Verletzten im Krankenhaus zu besuchen — eine fatale Entscheidung.

In einem Café der bosnischen Stadt sitzt derweil der pro-serbische Nationalist Gavrilo Princip. Er ist enttäuscht. Der Anschlag auf den verhassten Habsburger ist fehlgeschlagen, sein Komplize Nedeljko Cabrinovic ist bereits in Polizeigewahrsam. Doch plötzlich sieht er den Konvoi mit dem Neffen von Kaiser Franz Joseph vorbeiziehen. Der 19-Jährige rennt auf den offenen Wagen zu. Im letzten Moment feuert er mit seiner Pistole die tödlichen Schüsse auf Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie ab.

Wien reagiert unnachgiebig. Mit deutscher Unterstützung fordert Österreich zunächst Aufklärung von der serbischen Regierung, die hinter dem Attentat vermutet wird. Am 28. Juli erklärt die Donau-Monarchie dem renitenten Königreich Serbien den Krieg. Am 1. August unterschreibt der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Generalmobilmachung zur Unterstützung Österreichs — bald wird ganz Europa in Flammen stehen.

Der Krieg war keine schicksalhafte „Urkatastrophe“, sondern Berlins gezielter „Griff nach der Weltmacht“, schrieb der Hamburger Historiker Fritz Fischer (1908-1999) in den 60er Jahren und löste damit die erste Historikerdebatte nach 1945 in Deutschland aus. Beflügelt von dem bis tief in die deutsche Gesellschaft reichenden Hurra-Patriotismus habe sich die Reichsleitung von Militärs und Staatssekretären als Nachzügler unter den Kolonialmächten zum Angriff auf Europa entschlossen.

Doch längst sind Historiker von den Fischer-Thesen abgerückt. „Die Deutschen hatten den Weltkrieg nicht geplant, sie gingen sogar ziemlich unvorbereitet in den Krieg“, sagte der Militärhistoriker Sönke Neitzel, Professor an der London School of Economics. Deutschland habe im August 1914 gar keine Kriegsziele gehabt. Erst als der Krieg richtig losbrach, hätten vor allem rechte Kreise von möglichen Annexionen gesprochen.

Der Politologe Herfried Münkler zieht eine Verbindung zwischen Fischers Thesen und dem Aufbau der Demokratie in Deutschland nach 1945. Er spricht dabei von dem „Irrglauben“, dass die neue europäische Friedensordnung die Konstellationen für einen Konflikt wie 1914 aus der Welt geschaffen habe. Die jugoslawischen Zerfallskriege von 1991 seien dafür eine deutliche Warnung.

Auch Christopher Clark spricht in seinem inzwischen zum Bestseller aufgestiegenen Werk „Die Schlafwandler“ von einer gesamteuropäischen Krise im Jahr 1914. „Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller“, schreibt Clark. Am Ende werde der Schuldige nicht neben dem Leichnam auf frischer Tat ertappt.