„Eurovision Song Contest“ Ein Lied kann eine Krücke sein

Wer wissen will, wie es um die internationalen Beziehungen bestellt ist, muss eigentlich keine inhaltsschweren Analysen lesen, sondern lediglich den „Eurovision Song Contest“ einschalten. Er ist das politische Stimmungsbarometer Europas. Musik gibt es auch dazu.

Foto: Arevik Gregoryan/Kate Kondrateva

Stockholm. Um auf die internationale Bühne zurückzukehren und vielleicht sogar Gastgeber der Europameisterschaft im Singen zu werden, ist den Russen nahezu jedes Mittel recht - folkloristisch stampfende Großmütter, schmierige Friedenhymnen im weißen Fummel, ganz egal, Hauptsache, Image-Punkte. In diesem Jahr soll es Sergey Lazarev richten. In seiner Heimat ist der 33-Jährige ein echter Popstar, verkauft in Osteuropa Platten wie geschnitten Brot und wurde nach ortsüblichem Demokratieverständnis zum ESC-Kandidaten ernannt. Sein flottes Liedchen „You Are The Only One“ ist mit allen Tricks und Kniffen auf Sieg kalkuliert, allein das Werbevideo dürfte den Etat eines Kinofilms verbraucht haben.

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Ärgerten sich in früheren Jahren ESC-Fans aus Westeuropa, der komplette Osten votiere ja ohnehin nur füreinander (was stimmte) und manipuliere zudem den großen Zuschauer-Wettbewerb Europas (was bestimmt versucht wurde), haben sich die Verhältnisse längst verschoben. Alles, was für Lazarevs Sieg in Stockholm spricht (im Wettportal oddschecker.com steht er seit Wochen auf Platz 1), wird ihm zugleich in den einschlägigen Fan-Foren vorgeworfen. Seine direkte, wenn auch wahrscheinlich chancenlose Gegenspielerin im Wettbewerb ist die 32-jährige Susanna Jamaladinova, die in Stockholm unter dem Namen Jamala die Ukraine vertritt. Titel ihres Liedes: „1944“ — was im Vorfeld prompt Ärger gab und zu russischen Protesten bei der „European Broadcasting Union“ (EBU) führte, die den ESC veranstaltet.

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Die EBU ist als Zusammenschluss von 73 Staatssendern aus 56 Ländern sowie Dutzender Assoziierter von Kanada bis Hongkong eine Art FIFA des Fernsehens; entsprechend geht es zu. Mag der Vorwurf, die Jahreszahl „1944“ erinnere an „2014“ und damit die russische Besetzung der Krim auch etwas weit hergeholt sein, so ist der Song selbst natürlich höchst politisch: Jamala ist Krim-Tatarin, und 1944 war das Jahr, in dem Stalin die Deportation der Krim-Tataren (darunter Jamalas Großmutter) anordnete; mehr als die Hälfte der Deportierten kam ums Leben. Eigentlich könnte dies als Verstoß gegen die ESC-Regeln gewertet werden, in deren Ziffer 1.2.2. h) es zu den Künstlern und ihren Auftritten heißt: „Es sollen keine Texte, Reden oder Gesten politischer oder ähnlicher Natur während des ESC erlaubt sein.“

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Die EBU-Gremien entschieden jedoch, den Song zuzulassen. Er verstoße nicht gegen das Reglement, da er nun einmal keine politischen Botschaften enthalte. Das tat im vergangenen Jahr schließlich auch der russische Song „A Million Voices“ nicht: Während die Ukraine wegen des Krieges nicht teilnehmen konnte, präsentierte Polina Gagarina im weißen Kleid ein Friedens- und Völkerverständigungs-Liedchen, das es zum Entsetzen vieler sogar auf den zweiten Platz des Wettbewerbs schaffte. Beide Vorgänge zeigen lediglich, wie ungeeignet das ESC-Reglement ist, geschickt gemachte politische Demonstrationen außen vor zu halten. Mit ihm lassen sich lediglich ganz plumpe Propaganda-Lieder abwehren wie 2011 in Düsseldorf der Versuch Weissrusslands, von Anastasiya Vinnikova die Sowjet-Zeit des Landes verherrlichen zu lassen (am Ende sang sie schlicht „I love Belarus“ im Ballermann-Klatschrhythmus und flog im Halbfinale raus). In Abwandlung eines alten ESC-Songs von Joy Fleming (Stockholm 1975, Platz 17) könnte man sagen: Ein Lied kann eine Krücke sein.

Ein Quell ewigen ESC-Ärgers ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Anfang April bei Kämpfen um die Region Berg-Karabach erneut in offene kriegerische Auseinandersetzungen mit etlichen Toten und Verletzten führte. Als Aserbaidschan 2011 in Düsseldorf den ESC gewann und damit Ausrichter für 2012 wurde, hätte es zum Eklat kommen können, weil die armenische Delegation nicht einmal legal hätte einreisen dürfen, doch Armenien lehnte die Teilnahme ohnehin ab. Seit Aserbaidschan 2008 zum ersten Mal am ESC teilnahm, spielte die von der EU hofierte Erdöl-Diktatur immer auf den vorderen Plätzen mit.

Das könnte jetzt anders werden. Aserbaidschan bekommt jedes Jahr Stimmen aus Russland, Georgien und Weißrussland, häufig auch aus der Ukraine und anderen früheren Ostblock-Staaten. Der wichtigste Unterstützer war jedoch immer die Türkei. Das liegt nahe: Beide Länder sind verbandelt, es eint sie die Feindschaft zu Armenien und ein gemeinsamer Musikmarkt, Präsident Ilcham Aliew sieht Erdogan sogar etwas ähnlich. Doch Erdogans Türkei (2003 ESC-Sieger) nimmt seit 2013 nicht mehr am ESC teil. Und die Regeln sind: Singt Dein Land nicht, stimmt es auch nicht ab.

Offizieller Grund für die türkische Abstinenz ist, dass die „Big Five“ (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien) als größte Geldgeber des ESC automatisch am Finale teilnehmen. Dagegen vermutet man bei der Reference Group, dem ESC-Expertengremium der EBU: „Der türkische Sender TRT will offenbar nicht den liberalen europäischen Weg, der in den Eurovision Song Contest eingeschrieben ist, mitgehen. Wir bedauern das.“ Die Fans des Wettbewerbs auch, denn die Türkei (ESC-Sieger 2003) bereicherte den Wettbewerb mit teils tollen Pop-Songs. Doch davon will der Staatssender TRT unter dem Einfluss der islamischen-konservativen Regierungspartei AKP nichts mehr wissen. Er habe sich, so ESC-Experte Jan Feddersen, „in den vergangenen Jahren zu einem Propagandasender der pro-islamischen Mehrheit im Lande entwickelt“.

Dafür könnte es für Armenien diesmal ein paar Punkte mehr aus Deutschland geben: Teilnehmerin Iveta Mukuchyan ist nämlich in Hamburg aufgewachsen, wo sie heute an ihrer Gesangskarriere arbeitet. 2012 machte sie bei „The Voice of Germany“ im Team von Xavier Naidoo mit und schaffte es immerhin bis in die Liveshows der Sendung. Sich vor Aserbaidschan zu platzieren, würde auf den Straßen von Eriwan wahrscheinlich als großer Sieg über den Feind gefeiert.

Seit der „Eurovision Song Contest“ 1956 gestartet wurde, ist es praktisch nie gelungen, ihn von Politik freizuhalten. So nahmen trotz EBU-Mitgliedschaft bis heute die Staatssender von Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und dem Libanon noch nie teil, weil sie sich weigern, mit Israel in einem Wettbewerb anzutreten. Einzig Marokko scherte 1980 für ein Jahr aus der arabischen Boykott-Allianz aus. In dieser Woche erhielt der angeblich so unpolitische Song Contest gar in Aachen den europäischen Medienpreis, die Karlsmedaille, als Auszeichnung für Verdienste um die europäische Einigung. Die Laudatio hielt Abba-Gründer Björn Ulvaeus.

Als Abba 1974 in Brighton mit „Waterloo“ siegte, zeigte sich am Rande, wie ein ESC-Song zur politischen Waffe werden kann. Damals war Paulo de Carvalho für Portugal mit dem Liebeslied „E depois do Adeus“ (deutsch: Und nach dem Abschied) angetreten (und gescheitert). Aber in seiner Heimat war das Lied sehr beliebt. Als es am 24. April 1974 um 22.55 Uhr in Lissabon im Radio gespielt wurde, war es das verabredete Zeichen, die Vorbereitungen des Umsturzes zu beginnen. Der Song markierte den Auftakt der unblutigen „Nelkenrevolution“ und Portugals Weg in die Freiheit.