EU eröffnet neues Verhandlungskapitel mit Türkei

Luxemburg/Istanbul (dpa) - Die Europäische Union will mit der Regierung der Türkei trotz der Gewalt gegen Demonstranten weiter über den Beitritt zur EU verhandeln. Nach drei Jahren Unterbrechung eröffnete die EU erstmals wieder ein neues Verhandlungskapitel.

Angesichts des Vorgehens der türkischen Behörden gegen Regierungsgegner beschlossen die Europa- und Außenminister der 27 EU-Regierungen jedoch, dass die Verhandlungen erst im Herbst tatsächlich beginnen werden - nach der Vorlage eines Berichts der EU-Kommission über die Lage in der Türkei.

Mit diesem Kompromiss wurde ein Streit zwischen den Regierungen über die beste Reaktion der EU auf die Gewalt in der Türkei entschärft. „Das ist eine gute Entscheidung in einer schwierigen Lage“, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle in Luxemburg. „Jetzt haben wir eine Lösung gefunden, die sowohl den Entwicklungen der letzten Wochen Rechnung trägt als auch unsere strategischen gemeinsamen langfristigen Interessen nicht außer acht lässt.“ Dieses „zweistufige Verfahren“ sei auch von der türkischen Regierung akzeptiert worden.

In der Türkei kommt es nicht mehr jeden Tag zu Großdemonstrationen. In Ankara wurden am Dienstag mindestens 20 Personen von der Polizei festgenommen, denen der Aufruf zu Protesten vorgeworfen wird. Zuletzt hatten Äußerungen des türkischen Europaministers Egemen Bagis über das Verhältnis zu Deutschland zu Verstimmungen geführt.

In Luxemburg sagte der irische Außenminister Eamon Gilmore: „Obwohl wir über die Reaktion auf die friedlichen Proteste in der Türkei verstört sind, glaube ich, dass der EU-Erweiterungsprozess das wirksamste Werkzeug zur Beeinflussung der Reformpolitik in der Türkei ist.“ Er hatte die Gespräche über das Kompromisspapier, das Westerwelle vorgelegt hatte, geleitet. „Die Proteste haben auch gezeigt, dass die Türkei weitere Reformen braucht.“ Die Verhandlungen würden der EU erlauben, „weiterhin zur Gestaltung der Richtung künftiger Reformen in der Türkei beizutragen“.

In einer Erklärung des türkischen Außenministeriums heißt es, die Türkei werde „ungeachtet aller Hindernisse energische Schritte zur Harmonisierung politischer und wirtschaftlicher Kriterien tun“. Der Beschluss der EU-Außenminister soll noch am Freitag auch von den in Brüssel tagenden Staats- und Regierungschefs der EU bestätigt werden.

Nunmehr sind 14 der insgesamt 35 Kapitel der Beitrittsverhandlungen eröffnet. Derzeit ist jedoch nur noch die Eröffnung von drei weiteren Bereichen möglich. Die EU-Staaten haben acht Kapitel blockiert, um die Türkei zur Anerkennung Zyperns als Teil des Freihandelsabkommen mit der EU zu bewegen. Weitere sechs Kapitel sind durch Zypern, vier durch Frankreich blockiert.

Das entscheidende Datum für den tatsächlichen Beginn der Verhandlungen über den jetzt eröffneten Bereich Regionalpolitik ist die Vorlage des Mitte Oktober erwarteten jährlichen Fortschrittsberichts der EU-Kommission. Es geht dabei um die Annäherung der Türkei an politische Standards der EU.

Westerwelle sagte auf die Frage, was die EU tun wolle, falls dann wieder in der Türkei etwas passiere: „Ich will nicht darüber spekulieren, was alles auf der Welt noch passieren könnte bis Oktober.“ Entscheidend sei, „dass man sowohl die aktuelle Entwicklung nicht ignoriert, gleichzeitig aber auch die strategischen langfristigen Interessen nicht übersieht“. Er sei „froh darüber, dass dieser Kompromiss nach sehr komplizierten Verhandlungen möglich wurde“.