Meinung Falsche Rücksichtnahme auf Ankara
Die Bundesregierung windet sich regelrecht bei der Frage, ob sie die Verhaftungen regierungsunabhängiger Journalisten in der Türkei verurteilen soll oder nicht. Mehr als ein "wir sind besorgt" ist ihr nicht zu entlocken.
Auch nicht zu den über 30.000 Verhaftungen und über 100.000 Entlassungen nach dem versuchten Staatsstreich der Militärs. Es ist falsche Rücksichtnahme auf einen Parnter. Es ist der Versuch, die Augen zuzumachen, den Mund zu halten und zu hoffen, die Wirklichkeit sei gar nicht so schlimm. Doch, sie ist noch schlimmer. Wenn die Türkei so weiter macht, wie Erdogan offenbar will, wird sie sehr bald auf keinem Feld noch ein Partner sein können, auch nicht militärisch. Die Beitrittsperspektive zur EU hat sich seit Erdogans Putsch von oben sowieso schon so gut wie erledigt. Wenn der Staatschef wie angekündigt auch noch die Todesstrafe einführt, muss die EU die Gespräche sofort auch offiziell beenden.
Klartext kann unter keinen Umständen einen größeren Schaden stiften als der Potentat täglich selbst verursacht. Im Gegenteil: Eine klare Verurteilung der westlichen Staatengemeinschaft würde all jenen in der Türkei helfen, die noch für eine Demokratie in ihrem Land eintreten. Und auch jenen, die auf den freien Austausch von Menschen und Gütern mit dem Westen setzen, die auf eine westliche Orientierung ihres Landes hoffen. Der Präsident beruft sich auf die Mehrheit, die ihn gewählt hat. Doch eine Demokratie, die Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte und Menschenrechte derart grob missachtet, ist keine Demokratie, sondern bestenfalls eine Diktatur der Mehrheit. Und so muss man sie auch nennen.