Reportage Flüchtlingselend im Urlaubsparadies
Mindestens 3000 Menschen hausen unter katastrophalen Bedingungen auf der griechischen Insel Kos. Die Behörden helfen ihnen kaum. Die Gestrandeten wollen schnell weiter nach Norden.
Kos. Sie kommen am frühen Morgen, meist zwischen drei und fünf Uhr. Offenbar trauen die täglich manchmal Hunderte Menschen der griechischen Küstenwache nicht: Werden sie vielleicht doch zurückgeschickt, wenn sie in Schlauchbooten vom türkischen Bodrum aus die weniger als zehn Kilometer zur griechischen Urlaubsinsel Kos zurücklegen?
Dann lieber im Schutz der Dunkelheit fliehen. Für absurd hohe Preise kaufen sie die Gummiboote an der türkischen Küste. „Jeder muss 1000 Euro und mehr bezahlen, erzählt Bassam, ein Syrer, der jetzt in einem Zelt an der Strandpromenade haust. „Die Schwimmwesten mussten wir uns selbst besorgen, sie hängen dort in Läden wie anderswo T-Shirts“, sagt er in gutem Englisch. Ja, er habe noch Geld und er will auch weiterziehen wie die anderen etwa 3000 Flüchtlinge, die derzeit auf Kos gestrandet sind. „Wir müssen uns registrieren lassen, das dauert ein paar Tage.“
Bassam weiß, dass er als Bürger des kriegsgeschüttelten Landes zügiger an die Papiere kommt als Pakistani, Afghanen oder Afrikaner. Doch mit all ihnen hat er einen Wunsch gemeinsam. Nur weg von hier, und einen Platz auf der täglich am Abend im Hafen ablegenden Fähre nach Athen zu ergattern. Die 50 Euro dafür hat er. Und dann? Dann weiter nach Deutschland, sagt er optimistisch. Dem ausgebildeten Lehrer ist bewusst, dass noch ein langer Weg, viele Länder und Unwägbarkeiten vor ihm liegen. In Athen, so hat er gehört, könne man sich unbehelligt aufmachen in Richtung Norden. Was dann alles noch kommt, daran will er nicht denken. So wenig, wie er darüber sprechen mag, was ihn aus seiner Heimat getrieben hat.
Neben Bassam campieren geschätzt 2000 Flüchtlinge in Hafennähe, sie haben die Strandpromenade eingenommen. Auch Touristen sind da, bestaunen neugierig das Geschehen. Zwei Teenager fahren den Radweg entlang, filmen die Szenerie mit ihren Handys. Die Restaurants und Cafés auf der anderen Straßenseite sind fast leer.
Alexandra, eine 55-jährige Griechin, die an einem kleinen Stand Souvenirs und Schwämme verkauft, klagt: „Die Touristen bleiben weg.“ Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, sie hat Mitleid mit den Flüchtlingen, die ungewollt ihr kleines Geschäft schädigen. Die Stimmung bei den Einheimischen gegenüber den Flüchtlingen sei nicht mehr so freundlich wie noch im Frühjahr, als es noch weniger waren, sagt sie. Da hätten noch viele Essen vorbeigebracht, das sei jetzt weniger geworden.
Ein schwedisches Pärchen geht hinüber zu einer Familie, die mit drei kleinen Kindern vor der Strandmauer auf zerrissenen Pappkartons auf dem Boden sitzt. Liv und Mats haben ein Zelt gekauft und geben es den Flüchtlingen. Anders als viele andere Touristen, die in ihren Hotelanlagen bleiben und dort ihre Ferien verbringen, ohne auch nur einen Flüchtling zu Gesicht zu bekommen, sind sie bewusst nach Kos Stadt gefahren. „Wir konnten das nicht ausblenden“, sagt Mats. „Als wir dann das ganze Elend gesehen haben, wurde uns so richtig klar, wie gut es uns doch geht, wir müssen doch wenigstens ein bisschen was tun.“
Die beiden haben für ihren einwöchigen Urlaub auf Kos inklusive Flug weniger bezahlt als jeder einzelne Schlauchboot-Passagier. Die beiden sind sichtlich bedrückt von der Szenerie, die so unwirklich wirkt vor dem Hintergrund des blaugrün leuchtenden Meeres.
Doch es geht noch schlimmer auf Kos, viel schlimmer. „Captain Elias“ ist ein Hotel etwa drei Kilometer von der Strandpromenade entfernt. Nein, es war mal ein Hotel. Das ging pleite und dann ins Eigentum der Bank über. Diese ließ es leer stehen. Im einstigen Swimmingpool sitzen nun zwei Afrikaner und machen ein Feuer, um etwas zu kochen.
Die Anlage, in der noch vor ein paar Jahren Touristen in der Sonne lagen, ist jetzt ein riesiges Flüchtlingscamp. Die Menschen, meist aus Pakistan, Afghanistan und verschiedenen afrikanischen Ländern, sind ganz auf sich allein gestellt. Staatliche Hilfe: Fehlanzeige. „Ärzte ohne Grenzen“ ist vertreten, manchmal schaut einer vom Roten Kreuz vorbei. Auf allen Etagen und selbst auf dem Dach liegen schmuddelige Matratzen, es riecht übel. Viele ziehen es vor, auf den umliegenden Feldern zu campieren, um die 1000 Flüchtlinge sollen es in und um die Hotelruine sein. Jeder von ihnen versucht jeden Tag sein Glück in der Polizeistation, um die ersehnten Reisepapiere zu bekommen.
„15 Mal haben sie mir schon gesagt, ich soll morgen wieder kommen“, sagt Tariq, ein Pakistaner. Er hebt sein Hemd an und zeigt die Ekzeme, die er sich hier zugezogen hat. Ein Kongolese weicht seiner 16-jährigen Schwester nicht von der Seite, die hinter ihm im Zelt liegt. Wie mag das nachts sein, mit so vielen Männern unterschiedlichster Herkunft, im Dunklen, in einem Bereich, um den sich die Behörden nicht kümmern?
Sie kümmern sich tatsächlich nicht darum, bestätigt sogar Giorgos Kiritsis (Foto), der Bürgermeister von Kos: „Captain Elias ist beschämend, das ist eine Schande“, empört sich der 58-Jährige. Aber wer, wenn nicht er, kann etwas dagegen tun? Die Regierung in Athen habe angeordnet, dass die Flüchtlinge dahin sollen. Diese und die Bank, die das Gebäude aufgegeben habe, seien schuld.
Ob er denn nicht den Flüchtlingen zumindest mit Lebensmitteln helfen könne? Das würde fünf Euro pro Kopf und Tag Kosten rechnet er vor, „jeden Monat eine halbe Million, das haben wir nicht. Und das dürfen wir als Kommune nicht finanzieren.“ Seine Beamten und Angestellten seien im Dauerstress, drei Mal täglich werde rund um die Hafengegend der Müll weggeräumt. Die Zahl mobiler Toiletten soll von nur sieben derzeit für die Tausenden Flüchtlinge auf 20 erhöht werden.
Die Regierung in Athen sei schuld, auch die EU müsse helfen, fordert er. „Wenn wir keine Unterstützung bekommen, kann es sehr schnell zu unmenschlichen Bildern kommen“, warnt er und sagt, dass in der Türkei bereits zweieinhalb Millionen weitere Flüchtlinge darauf warten, nach Europa zu gelangen. „Bilder wie die auf seiner Insel werde es sehr bald auch anderswo geben“, prophezeit der Bürgermeister.
Auch die von der Kirche täglich zubereiteten 400 Mahlzeiten reichten nicht mal für die verarmten Bürger von Kos aus. So müssen die Flüchtlinge anders an Essen kommen, mit eigenem Geld oder Spenden von Touristen. Und dann fährt doch tatsächlich ein Gemüsehändler am „Captain Elias“ vor, sein Wagen ist beladen mit Tomaten und Melonen, die er zu überhöhten Preisen anbietet. 15 Euro für etwa 20 Tomaten.
Und im Yachthafen wenige Kilometer weiter hängt ein Plakat: Bootsbesitzer können eine Massage bestellen. „Wir kommen gern an Bord.“
Der Autor reiste mit Unterstützung des Reiseveranstalters alltours