Reportage aus Kambodscha Kindergarten als Alternative zur Müllkippe

Phnom Penh · In Phnom Penh leben viele Familien von gesammeltem Abfall. Damit ihre Kinder nicht auf der Deponie heranwachsen, werden sie tagsüber betreut – mithilfe des Friedensdorfs International.

Im Comped-Home-Kindergarten bekommt die vierjährige Neang Tha nicht nur eine warme Mahlzeit, sondern ist auch vor einem Alltag auf der Mülldeponie bewahrt. Dort verdient ihre Mutter als Müllsammlerin ihren Lebensunterhalt.

Foto: Uli Preuss

Gäbe es diesen Kindergarten nicht, die kleine Neang Tha wäre dort, wo in Phnom Penh alle Kinder von Wastepickerfamilien sind – auf der Müllkippe. Doch seit Mutter Phorn Mey die Vierjährige im Comped-Home-Kindergarten von Chau Kim Heng abgeben kann, ist es auch für sie leichter. Im Schichtsystem sammelt sie Bierdosen auf der größten Deponie Kambodschas. Für 60 Stück, die irgendwo wahllos auf der riesigen Deponie liegen, bekommt sie von ihrem Händler umgerechnet 80 Cent. Wer denkt, dass das ein guter Verdienst ist, muss wissen, dass in Phnom Penh mehr als 5000 Müllsammler leben. Viele davon auf Aluminiumdosen spezialisiert. Nein, die 39-Jährige kommt vielleicht auf einen Dollar am Tag – mehr nicht.

Der Abfall der Stadt, in der inoffiziell mehr als drei Millionen Menschen leben, wird hier außerhalb der Metropole an der neu gebauten Makara Road abgekippt. 33 Hektar groß ist die neue Deponie, zehn Meter tief das Loch, schon jetzt zu einem Drittel gefüllt. Lastwagenkolonnen laden hier 3000 Tonnen ab – täglich. Auf der alten Halde, weltweit als „Smokie Mountain“ bekannt, brannten Tag und Nacht die Abfälle. Auch jetzt ist die Deponie voller Methangas-Einlagerungen. Es ist verboten, auf der neuen Anlage zu fotografieren. Aus Sicherheitsgründen, heißt es. In Wirklichkeit werden es wohl die erbärmlichen Arbeitsbedingungen sein, die man nicht zeigen will.

Leben auf der Kippe: keine Hygiene, kein Essen, keine Bildung

Während die Eltern im Dreck nach Verwertbarem suchen, sitzen ihre Kinder daneben. Wo sonst sollten sie hin, zucken Waste­picker auf die Frage nach der Unterbringung die Schultern. Menschen, die wie Müllsammler im Dreck ganz unten im Gesellschaftsgefüge leben, haben wenig Alternativen. Für ihre Jüngsten heißt das: keine Hygiene, kein warmes Essen, keine Bildung und zudem die alltägliche Gefahr von Verletzungen aller Art. Einen Kindergarten oder später eine Schule, das können sich hier die wenigsten leisten. Schlimmer noch: Einmal auf der Deponie, helfen die Kinder mit beim Müllsammeln, so früh sie können.

Das wollte Chau Kim Heng nicht länger mit ansehen. Die Firma des Diplom-Physikers, der zu DDR-Zeiten in Leipzig studierte, ist ein Beratungsunternehmen für Abfallwirtschaft. Der Chef ist nah dran an den Lebensbedingungen der Müllsammler. Als Kind erlebte der 56-Jährige die Zeiten unter Pol Pot, wurde selbst misshandelt. Das beschreibt er eindrucksvoll in einem Buch, das er vor vielen Jahren herausbrachte. Kindern helfen, denen sonst keiner hilft, hat sich der Vater zweier Söhne auf die Fahne geschrieben. So arbeitet der Kambodschaner seit Jahrzehnten mit dem Kinderhilfswerk Friedensdorf International zusammen. Die Oberhausener sind es, die auch sein Kindergartenprojekt überzeugt unterstützen.

In Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, leben rund 5000 Menschen vom Müllsammeln.

Foto: Uli Preuss

Erst eine Anlaufstation für Blinde, inzwischen für Kinder

Der Familienvater baute sein Comped-Home. Anfangs wurden im großen Gebäude Blinde darin geschult, Gärten zu bewirtschaften. Überlebenswichtig in einem Land, in dem viele Menschen nur von dem leben, was der Boden hergibt. Jetzt ist das große Grundstück voll lebendigen Kindergeschreis. Zwei weitere Gebäude sind errichtet, gerade entsteht ein Spielhaus. Der Kindergarten, der zuerst 20 Kinder aufnahm, gibt aktuell 95 kleinen Kambodschanern Geborgenheit.

In fünf Gruppen arbeiten sechs Erzieherinnen mit den Drei- bis Fünfjährigen, die alle das orangefarbene Kindergarten-Shirt tragen. Keiner ist hier mehr, keiner weniger wert. Acht weitere Mitarbeiter beschäftigt das kleine Unternehmen – vom Hausmeister bis zur Köchin.

Neang Tha darf heute die Buntstifte verteilen. Gewissenhaft tut sie das. Nimmt jeden Stift mit zwei Fingern und gibt die Stifte an die Kinder weiter, als gelte es, ein wertvolles, gläsernes Essensstäbchen weiterzureichen. In ihrer Gruppe spielt Erzieherin Mey Kanha heute mit den Kindern, Buchstaben sollen ausgemalt werden. Wichtig ist auch die Hygiene, die noch vor dem Mittagessen vermittelt wird. Gemeinsam wäscht man sich sorgfältig die Hände. „Vor dem Schlafen, vor dem Essen, Händewaschen nicht vergessen“, singen die Kleinen in der Landessprache Khmer. Besonders wichtig sei es neben Sprache und vorschulischer Ausbildung, dem Nachwuchs des Landes ein ihm bis dahin unbekanntes Sozialverhalten beizubringen, betont Chau Kim Heng.

Ein umfassendes Programm, das auch für die kleine Neang Tha morgens um 7 Uhr beginnt und mit der Heimfahrt per Kindergartenbus gegen 16 Uhr endet. An der Straße wartet jetzt Mutter Phorn Mey. Tha lebt in einem einfachen Haus am Straßenrand im Dorf Baku, südlich der Deponie. 24 Wastepickerfamilien wohnen hier in 24 Verschlägen.

Der Raum, in dem Mutter, Tochter, der zweijährige Bruder Chaan Sokchea und die Tante Phorn Map leben, hat die Größe einer breiten Matratze. Tagsüber wird die Schaumstoffunterlage an der Wand hochgezogen. Nur so kann auf dem dünnen Boden aus Bambuslatten gesessen und gekocht werden. Jetzt am Anfang des Jahres ist es heiß, aber trocken. Doch in der Regenzeit fließt knapp unter der Behausung das Wasser. Keine 20 Zentimeter sind es dann zwischen Liegefläche und Abwasser. Die Wände sind aus Wellblech, die Tür schließt nicht und das Fenster von Neang Thas Spiel-, Schlaf-, Ess- und Wohnzimmer ist ein rechteckiges Loch mit einem Meter Breite ohne Scheiben.

Alle hier haben den gleichen Wohnraum, leben Wellblech an Wellblech. Die Miete von 50 000 Riel (elf Euro) ist gerade erschwinglich, kämen nicht noch monatlich Wasser und Strom für 15 Dollar hinzu. Der klägliche Rest geht für Lebensmittel drauf.

Neang Tha (l.), ihr Bruder Chaan Sokchea, ihre Tante Phorn Map (hinten) und ihre Mutter Phorn Mey in ihrem kleinen Wellblechverschlag.

Foto: Uli Preuss

Kriminelle Mikrokredite treiben Menschen in die Mittellosigkeit

Die Menschen hier kommen vom Land und haben das Nichts eingetauscht gegen ein Wenig. Die meisten hier sind Analphabeten. Auch mit dem Ausfüllen von komplizierten Geburtsurkunden oder Anträgen müssen die Kindergartenleute deshalb helfen. Neu hinzugekommen ist das Problem mit sogenannten Mikrokrediten. Darlehen, die mit kriminellen Verträgen Beträge zwischen 50 und 500 Dollar absichern. Einmal in der Kreditfalle, werden ausgerechnet diese Menschen völlig in die Mittellosigkeit getrieben.

Im Comped-Home-Kindergarten zahlen Mütter wie Phorn Mey dagegen nichts, andere wenig. „Die, die es sich erlauben können, geben bis zu 25 Dollar im Monat, die meisten aber gar nichts“, sagt Chau Kim Heng. Dafür gibt es für die Kleinen neben Unterricht und Unterbringung täglich ein warmes Essen. Finanziert wird der Tagesablauf über Förderer aus Deutschland und zwei Kinderhilfsorganisationen, darunter das Friedensdorf Oberhausen, das ohnehin im Land engagiert ist.

Dort, wo der Kindergarten steht, ist die Straße beinahe zu Ende. Das ganze Gelände hier ist begehrtes Bauland, denn Phnom Penh gehört zu den boomenden Städten Asiens. Zwischen den Flüssen Mekong und Tonle Sap schießen die Hochhäuser internationaler Banken in die Höhe.

Gedenken an die Opfer des Terrors der Roten Khmer

Am Kindergarten – einige Kilometer außerhalb der Stadt – treffen sich Zukunft und Vergangenheit. Keine zweihundert Meter entfernt im Choueng Ek Genozid Center sind Touristen aus aller Welt betroffen angesichts der grausamen Vergangenheit unter den Roten Khmer. In Form von ausgestellten Schädeln wird hier der Toten von einst gedacht.

Im Kindergarten der Wastepicker geht die Zukunft des Landes jetzt Hand in Hand zum Essen. „Unsere Schule ist schön und macht die Kinder glücklich“, singen die Kleinen. Es gibt Eierkuchen mit Gemüse aus dem Wok, duftenden Reis dazu. Nheang Thas Lieblings­essen, könnte man denken. Aber vielleicht ist für das kleine Mädchen mit den traurigen Augen jede Speise ein Festessen.