Millionen Afghanen trotzen der Gewalt
Die massiven Drohungen der Taliban laufen weitgehend ins Leere. Die Beteiligung an der Präsidentenwahl ist überraschend hoch.
Kabul. Vor der afghanischen Präsidentenwahl kamen die Taliban in das Dorf von Hadschi Afghan im Ghorband-Tal. Ihre Botschaft: Die Menschen dürften nicht wählen gehen. „Die Taliban sagten uns, dass wir Sünder wären und unser Leben verlieren würden, wenn wir wählen würden“, sagt der 57-jährige Bauer. Es sei eine schwierige Entscheidung gewesen, aber er habe beschlossen, sich davon nicht abschrecken zu lassen. Dass das Wahllokal in seinem Dorf aus Sicherheitsgründen geschlossen blieb, konnte ihn ebenso wenig stoppen. „Ich bin vier Dörfer weit gelaufen und habe dort gewählt.“
Afghan und Millionen seiner Landsleute bewiesen am Samstag großen Mut — sie trotzten den Taliban. Vollmundig hatten die Aufständischen angekündigt: „Jedes Wahlzentrum wird gefährdet sein, und eine Welle von Angriffen wird im ganzen Land beginnen.“ Zwar verübten sie zahlreiche Anschläge, nach offiziellen Angaben kamen neun Polizisten, sieben Soldaten und vier Zivilisten ums Leben. Dutzende Taliban wurden bei Gefechten mit afghanischen Sicherheitskräften getötet.
Das von den Taliban angedrohte Blutbad unter Wählern blieb aber aus. In der Hauptstadt Kabul, in der mit spektakulären Anschlägen gerechnet wurde, blieb es den ganzen Wahltag über ruhig. Aus ländlichen Unruhegegenden gab es Berichte, dass sich Menschen nicht zur Wahl trauten. Zumindest in den Bevölkerungszentren aber ging die Strategie der Taliban, die Afghanen mit Terrordrohungen vor der Wahl abzuschrecken, nicht auf.
In Kabul bildeten sich trotz strömenden Regens lange Schlangen vor den Wahllokalen. Auch etliche Frauen gaben ihre Stimme ab, darunter die 18-jährige Schabana. Natürlich sei sie zur Abstimmung gegangen, sagt die Erstwählerin mit den glitzernden Jeans selbstbewusst. Frauen seien schließlich gleichberechtigt. „Meine ganze Familie wählt. Es ist unser Recht, unseren Anführer zu wählen.“
In manchen Gegenden war der Andrang so groß, dass die Wahlkommission die Öffnungszeiten der Wahllokale im ganzen Land um eine Stunde verlängerte. Die Wahlkommission schätzte die Zahl der Wähler nach Schließung der Wahllokale auf sieben Millionen — bei zwölf Millionen Wahlberechtigten ein sehr respektabler Wert. Bei der Wahl vor fünf Jahren waren 5,8 Millionen Stimmen abgegeben worden, von denen 1,2 Millionen wegen Betrugs für ungültig erklärt wurden.
In welchem Ausmaß bei der Wahl am Samstag betrogen wurde, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Ein Endergebnis hat die Wahlkommission erst für den 14. Mai avisiert. Allerdings waren die Vorkehrungen diesmal deutlich schärfer als bei der Katastrophenwahl 2009.