Mutmaßlicher Boston-Bomber soll reden und Ermittlern helfen
Boston/Washington (dpa) - Ärzte kämpfen um sein Leben, Sonderermittler stehen zum Verhör bereit: Nach der dramatischen Festnahme des Terrorverdächtigen hofft Amerika auf eine Aussage zum Motiv für den Bombenanschlag auf den Boston-Marathon.
In einer Verfolgungsjagd, die die 625 000-Einwohner-Stadt in Atem hielt, hatte die Polizei den 19-jährigen Dschochar Zarnajew am Freitagabend (Ortszeit) nach einem Schusswechsel schwerverletzt gefasst. Sein Bruder und mutmaßlicher Komplize Tamerlan (26) war auf der Flucht von der Polizei getötet worden.
In einem Krankenhaus wurde Dschochar Zarnajew nach US-Medien künstlich beamtet und war zunächst nicht vernehmungsfähig. „Wir hoffen, dass der Verdächtige überlebt, denn wir haben eine Million Fragen“, sagte der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick. Bei dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon waren am Montag drei Menschen getötet und rund 180 verletzt worden.
Die Ermittler gehen davon aus, dass die Brüder allein gehandelt haben. Über die Hintergründe wird weiter gerätselt. Das FBI hatte Tamerlan 2011 als „radikalen Islamisten“ im Visier - allerdings ohne Hinweise auf terroristische Aktivitäten zu finden.
Dschochars Zustand war am Sonntag weiter ernst. Er habe eine Verletzung am Hals erlitten und sei noch nicht in der Lage zu sprechen, berichtete der Nachrichtensender CNN unter Berufung auf einen Bundesbeamten. Er wird im streng bewachten Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston behandelt. Dort liegen auch elf der Opfer.
Nach dem Tod seines Bruders in einem Feuergefecht mit der Polizei hatte er sich im Vorort Watertown verletzt in einem Garten in einem abgedeckten Boot versteckt. Dort entdeckte ihn der Hausbesitzer unter der Plane und wählte den Notruf. Von der Polizei veröffentlichte Infrarot-Bilder zeigen den jungen Mann wegen seiner Körperwärme als klar zu erkennenden weißen Fleck in dem Boot. In dem Film ist zu sehen, wie sich ein gepanzertes Fahrzeug nähert und mit einem Ausleger die Plane einreißt. Dann wird eine Blendgranate gezündet.
Die Polizei gab inzwischen Details zur Festnahme bekannt. Der 19-Jährige habe nach langer Verfolgung letztlich aufgegeben. „Schließlich tat er, was wir ihm befohlen hatten, stand auf und hob sein Hemd hoch“, sagte der Polizeichef von Watertown, Edward Deveau, in einem CNN-Interview. Deveau sprach von „20 Minuten Verhandlungen“ mit dem Schwerverletzten. Er räumte allerdings ein, dass Zarnajew dabei „nicht viel gesagt“ habe. Er habe aber noch um sich geschossen.
In Watertown strömten die Menschen auf die Straße und jubelten, als die Festnahme bekanntwurde. Die Bostoner Polizei twitterte um 20.58 Uhr Ortszeit (2.58 Uhr MESZ): „Die Jagd ist aus. Die Fahndung ist vorüber. Der Terror ist vorbei. Und Gerechtigkeit hat gesiegt. Verdächtiger in Haft.“ Für die Großfahndung war am Freitag der gesamte Großraum lahmgelegt worden, es gab eine Ausgangssperre.
Nach dem Anschlag von Boston war der Tatverdächtige Augenzeugen zufolge an seine Universität zurückgekehrt. Er habe sich verhalten, als sei nichts gewesen, habe im Fitnessraum trainiert und sei abends sogar auf eine Party gegangen, berichtete die Zeitung „Boston Globe“ am Sonntag in ihrer Internetausgabe unter Berufung auf Mitstudenten.
US-Präsident Barack Obama lobte die Ermittler in einer kurzen Rede im Weißen Haus und kündigte lückenlose Aufklärung an.
Wie das FBI nach der Festnahme mitteilte, hatte die Bundespolizei den älteren Bruder, Tamerlan, 2011 auf Wunsch einer ausländischen Regierung überprüft. Laut einem CNN-Bericht bestätigte die Behörde inzwischen, dass es sich dabei um Russland gehandelt habe. Das Ersuchen habe sich auf Informationen gestützt, wonach Tamerlan dem radikalen Islam anhänge und sich von 2010 an drastisch verändert habe. Zuletzt habe er Vorbereitungen getroffen, die USA zu verlassen, um sich Untergrundgruppen in Russland anzuschließen, hieß es. FBI-Agenten verhörten damals ihn und Familienangehörige.
Die Bundespolizei nahm ihre Untersuchungen allerdings nicht wieder auf, als Zarnajew im Sommer 2012 von einer sechsmonatigen Reise nach Dagestan und Tschetschenien in die USA zurückkehrte, wie Mitarbeiter einräumten. Nach Recherchen des investigativen Reporternetzwerks „Pro Publica“ und der „New York Times“ hatte sich Zarnajew nach seiner Rückkehr sichtbar radikalisiert. Auf der Internetplattform Youtube stellte er demnach islamistische Videos ein. Er habe sich auch Seiten angesehen, auf denen sich Anleitungen zum Bombenbau finden.
Welche Höchststrafe Dschochar Zarnajew droht, hängt davon ab, ob er nach Landes- oder Bundesrecht angeklagt wird: Massachusetts kennt keine Todesstrafe, die USA als Staat aber schon. CNN zitierte einen Beamten aus dem Justizministerium mit den Worten, Zarnajew müsse sich wohl nach Bundesrecht wegen Terrorismus verantworten und nach Landesrecht wegen Mordes.
In den USA wird auch darüber gestritten, ob Zarnajew ein Recht zu schweigen oder auf einen Anwalt hat. Das Justizministerium hat vorläufig entschieden, den 19-Jährigen zunächst ohne diese sogenannten „Miranda-Rechte“ zu verhören. Eine Ausnahmeregelung macht dies möglich, wenn unmittelbare terroristische Gefahr besteht und der Festgenommene als „feindlicher Kämpfer“ identifiziert ist.
Die Brüder Zarnajew sind tschetschenischer Herkunft, lebten aber mit ihrer Familie bereits seit 2002 in den USA. Beide Söhne sind laut FBI in Kirgistan geboren. Dschochar sei in den USA eingebürgert, Tamerlan habe eine ständige Aufenthaltserlaubnis gehabt. Bei der Ermittlungen wollen Moskau und Washington eng zusammenarbeiten.