310.000 Fälle in Deutschland Von 50 auf 87 Millionen: Neue Dimension im Facebook-Skandal
Menlo Park/Berlin (dpa) - Der Facebook-Datenskandal um Cambridge Analytica weitet sich dramatisch aus. Die Daten von bis zu 87 Millionen Facebook-Nuzern könnten auf unrechtmäßige Weise an die britsche Datenanalyse-Firma gelangt sein.
Bislang war man von rund 50 Millionen ausgegangen.
In Deutschland sind möglicherweise bis zu 310.000 Nutzer betroffen, teilte das Online-Netzwerk mit. Die EU-Kommission kündigte Gespräche mit dem US-Konzern für die kommenden Tage an. Netzexperten befürchten, dass der aktuelle Skandal kein Einzelfall ist, sondern nur die „Spitze des Eisbergs“.
In der Affäre geht es auch um die Frage, welche Rolle die Daten von Cambridge Analytica im US-Wahlkampf des damaligen Präsidentschaftsbewerbers Donald Trump spielten. Mit etwa 70,6 Millionen stammen die weitaus meisten potenziell betroffenen Nutzer aus den USA - knapp 40 Prozent der damaligen US-Facebook-Nutzer.
Was genau ist passiert? Cambridge Analytica hatte die Daten von einem britischen Professor bekommen, der 2014 eine App mit einer Psychologie-Umfrage auf die Facebook-Plattform brachte. Nach der damaligen Funktionsweise von Facebook hatte die App auch Zugang zu einigen Informationen der Freunde der Umfrage-Teilnehmer, etwa deren Likes und Interessen. Das erklärt die hohe Zahl betroffener Nutzer.
Cambridge Analytica half unter anderem, gezielt Werbung bei Facebook zugunsten von Trump zu platzieren. Möglicherweise hat die Firma dank der Daten Trump zum Sieg verholfen. Cambridge Analytica betont aber, sie habe die Facebook-Datensätze nicht im Wahlkampf eingesetzt.
An der Umfrage hatten sich nach Facebook-Angaben lediglich 65 Nutzer aus Deutschland beteiligt. Durch den Schneeballeffekt könnten aber bis zu 309.815 Facebook-Mitglieder aus Deutschland betroffen sein. Denn Ausgangspunkte sind nicht nur die wenigen deutschen Teilnehmer, sondern auch Facebook-Nutzer in den USA und anderen Ländern, die bei der Umfrage mitmachten und Facebook-Freunde in Deutschland haben.
Ist nun das komplette Ausmaß des Datenskandals bekannt? Nein, fürchtet der für Facebook zuständige Hamburger Datenschutzbeauftragte, Johannes Caspar. „Facebook hat zur Unterstützung seines eigenen Geschäftsmodells einen sehr weitgehenden Zugriff für Apps Dritter auf Nutzerdaten zugelassen“, sagte er. „Der Fall Cambridge Analytica bildet da nur die Spitze des Eisbergs.“
Facebook wusste seit 2015 von dem Datenmissbrauch, gab sich aber mit der Zusicherung der Firma zufrieden, die Daten seien gelöscht worden. Weitere rechtliche Schritte wurden nicht eingeleitet. Auch die Nutzer wurden damals nicht über die Vorgänge informiert, was Facebook inzwischen als Fehler bezeichnet und nachholen will.
Konzernchef Mark Zuckerberg muss nächsten Mittwoch im US-Kongress zu dem Skandal Rede und Antwort stehen. Kurz vor dem für ihn unbequemen Auftritt gab er sich in einer Telefonkonferenz mit Journalisten erneut selbstkritisch. Facebook habe nicht genug unternommen, um seine Nutzer zu schützen. „Das war unser Fehler, das war mein Fehler.“ Er räumte auch ein, es sei falsch gewesen, nach der US-Präsidentenwahl 2016 den möglichen Einfluss gefälschter Nachrichten bei Facebook auf den Wahlausgang herunterzuspielen.
Facebook verkündete auch mehrere Vorkehrungen, um Daten besser zu schützen. Unter anderem können Nutzer-Profile nicht mehr über Telefonnummern und E-Mail-Adresse gesucht werden. Zudem soll die Anmeldung bei anderen Apps über die Facebook-Login-Daten strikter gehandhabt werden. Dadurch kam es am Donnerstag vorübergehend zu technischen Problemen, etwa bei Nutzern der Dating-App Tinder.
Allerdings hat Facebook seine Datenschutz-Offensive nicht allein aus eigenem Antrieb gestartet. Hintergrund für viele Änderungen ist die EU-Datenschutzgrundverordnung, die im Mai in Kraft tritt.
Der EU reicht es nicht, was der Konzern bislang im Zuge des Skandals angestoßen hat. Die EU-Kommission will in den nächsten Tagen „auf höchster Ebene“ mit Facebook Gespräche führen. EU-Justizkommissarin Vera Jourová schrieb auf Twitter, das wachsende Ausmaß des Falls sei „sehr besorgniserregend“. Facebook müsse mehr tun.
Auch die Bundesregierung verlangt weitere Schritte. „Facebook ist ein Netzwerk der Intransparenz“, klagte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD). „Ethische Überzeugungen fallen kommerziellen Interessen zum Opfer.“ Facebook lebe vom Vertrauen seiner Nutzer und habe dieses verspielt. Die Aufklärung dürfe sich nicht nur auf den Fall von Cambridge Analytica beschränken. Facebook habe auch versprochen, die Betroffenen in Deutschland zu informieren. Das müsse nun passieren.
Aber was können die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten ausrichten? Barley meint, die EU-Staaten müssten klare Regeln für soziale Netzwerke aufstellen, prüfen, ob die EU-Datenschutzgrundverordnung wirke, weitere Anforderungen gesetzlich festschreiben und Facebook dazu zwingen, gegenüber Behörden in der EU auch die Funktionsweise seiner Algorithmen offenzulegen - also etwa die Art und Weise, wie Daten analysiert werden, um Nutzerprofile zu erstellen.
Barley nutzt die Gelegenheit, sich mit dem Thema zu profilieren. Ende März hatte sie Facebooks europäischen Cheflobbyisten, Richard Allan, in ihr Ministerium zitiert. Für Datenschutzfragen ist ihr Ressort dabei eigentlich gar nicht an erster Stelle zuständig, sondern das Innenministerium. Doch das hält sich auffallend zurück.
Der Grünen-Netzpolitiker Konstantin von Notz stichelte, die nicht zuständige Justizministerin veranstalte vollkommen folgenlose Kaffeerunden mit Facebook, während der eigentlich zuständige Innenminister völlig abtauche und die gravierenden Probleme für 30 Millionen deutsche Nutzer ignoriere. „Das ist absolut inakzeptabel.“