Herr Rüttgers, wäre das Land ein Ehepaar, würde es in diesen Tagen Kronjuwelenhochzeit feiern. War es richtig, dass die Briten Westfalen und Rheinländer „verheiratet“ haben?
ANZEIGE 75 Jahre NRW „Das Land ist gut in Schuss“
Der frühere Ministerpräsident Jürgen Rüttgers über 75 Jahre Nordrhein-Westfalen, die Jahrzehnte des Aufbaus, den Strukturwandel im Ruhrgebiet und im Rheinischen Revier sowie das Herz des Landes.
Von 2005 bis 2010 hat Jürgen Rüttgers Nordrhein-Westfalen mit einer schwarz-gelben Koalition regiert. Sein Credo: wirtschaftliche Vernunft mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Über die Vergangenheit, Gegenwart, aber auch die Zukunft des Landes sprachen Bernd Eyermann und Helge Matthiesen mit dem früheren Ministerpräsidenten.
Jürgen Rüttgers: Das war eine der besten Entscheidungen, die die britische Regierung damals getroffen hat. Sie hat sich in jeder Hinsicht bewährt.
Warum?
Rüttgers: Weil damit ein stabiler Anker in die neue Bundesrepublik gekommen ist. Auch im Blick auf die Benelux-Länder und Frankreich. Ihnen war wichtig, dass Deutschland nicht zu stark und gefährlich würde. Ein großes Bundesland wie Nordrhein-Westfalen innerhalb der Bundesrepublik half dabei. Die Franzosen erkannten sehr schnell, dass sie mit einer Kombination von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet sowie in Lothringen und Nordfrankreich sicherstellen konnten, dass beide Länder nicht mehr gegeneinander Krieg führen können. Daraus entstand die Montanunion und letztlich das vereinte Europa.
Was ist für Sie das Besondere an dem Land?
Rüttgers: Nordrhein-Westfalen ist ein sehr großes und sehr starkes Land, wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell, mitten im Herzen Europas. Sehr wichtig war für mich, Nordrhein-Westfalen zu einem Teil von Benelux zu machen. Wir gehören einfach zusammen. Der Campus der RWTH Aachen wird um das Gelände eines Güterbahnhofs erweitert, der von den Preußen gebaut wurde, um Soldaten schnell an die Westgrenze zu bringen. Wir haben seit über 75 Jahren Frieden. Den Bahnhof brauchen wir nicht mehr.
Das Land war zunächst Lokomotive der konjunkturellen Entwicklung in Deutschland, später gab es Kohle- und Stahlkrisen. Ist die wirtschaftliche Stärke Fluch und Segen zugleich?
Rüttgers: Es war richtig, unmittelbar nach dem Krieg sowohl die Kohle- als auch die Stahlproduktion schnell nach oben zu fahren, um wieder voran zu kommen. Man hat aber über die vielen folgenden Jahrzehnte zu lange Erhaltungssubventionen gezahlt, anstatt neue Produkte anzugehen. In den 60er Jahren unter Ministerpräsident Franz Meyers hat man angefangen, neue Universitäten zu gründen. Das war richtig. Aber die Frage, wie daraus industrielle Arbeitsplätze werden, ist nicht zureichend beantwortet worden.
Subventionen gab es vom Bund noch bis 2018.
Rüttgers: Ich bin immer noch stolz darauf, dass wir Anfang der 2000er Jahre in der CDU-Landtagsfraktion ein Konzept entwickelt haben, wie wir die vielen hundert Millionen an Steinkohle-Subventionen zurückführen können. Für uns war immer klar, dass niemand ins Bergfreie fallen sollte, also plötzlich seinen Arbeitsplatz verliert. So ist es dann ja auch umgesetzt worden.
Im Blick auf die Braunkohle steht jetzt der nächste Strukturwandel an.
Rüttgers: Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten viele Gespräche geführt und will das auch fortsetzen. Es geht mir darum, dass wir ein Gesamtbild des Rheinischen Reviers bekommen. Bisher fehlt mir das. Wie die Dekarbonisierung, also der Abbau des CO2-Ausstoßes bei der industriellen Produktion, gelingen kann, wird eine der wichtigsten Fragen sein. Das Silicon Valley zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen aus Ideen Produkte gemacht haben, und das zu marktgerechten Preisen. Auf diesen Weg können wir uns auch im Rheinischen Revier machen. Zum Beispiel muss jetzt sowohl ein neuer Campus der Technischen Hochschule Köln in Erftstadt angepackt als auch die Erweiterung der RWTH Aachen vollzogen werden.
Der Strukturwandel im Ruhrgebiet hat auch dazu geführt, dass das Land im Bundesrat vom Zahler zum Nehmer wurde. Wie bewerten Sie das Gewicht Nordrhein-Westfalens heute? Früher ging ohne NRW und Bayern nichts.
Rüttgers: Ich glaube, das ist noch so. Wenn Anfang der 90er Jahre im Vermittlungsausschuss Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat anstanden, habe ich als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion in der bayerischen Staatskanzlei und bei der Regierung in Düsseldorf nachgefragt. Wenn beide die gleichen Zahlen hatten, war es nicht mehr schwierig, zu einem Konsens zu kommen. Die Geschichte zeigt die Wichtigkeit beider Länder. Darüber hinaus: Ein Land mit 18 Millionen Einwohnern muss sich immer bewusst sein, dass man auch für die kleineren Bundesländer Verantwortung hat. Dann ist man selbst glaubwürdig.
Es heißt, die Länder hätten an Einflussmöglichkeiten verloren.
Rüttgers: Das hat leider damit zu tun, dass man lieber Geld vom Bund angenommen hat als seine Zuständigkeiten wahrzunehmen.
Die Länder sind also selbst schuld?
Rüttgers: Ja. Ich plädiere für Vielfalt und dass die Länder den Föderalismus ernstnehmen. Er ist ein Schatz, den unser Staat, unsere Gesellschaft hat. Wir neigen dazu, dass es für alle Probleme schnelle Lösungen geben muss und das möglichst einheitlich in Deutschland. Diese Grundhaltung wird nicht erfolgreich sein. Die Landespolitik muss selbstbewusst sein und eigene Vorschläge machen.
Ist Nordrhein-Westfalen noch das soziale Gewissen der Bundesrepublik, das Land des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit?
Rüttgers: Ja. In der großen Finanzkrise hat sich das besonders gezeigt. Mit Unternehmern und Arbeitnehmern habe ich immer wieder überlegt, wie die Betriebe über die Runden kommen können. Eines Tages erzählte mir ein Unternehmer aus dem Westfälischen, dass seine Mitarbeiter ihn angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage gefragt hätten: „Chef, wir schaffen das doch, oder?“ Er habe geantwortet: „Ja, wir schaffen das“. Danach sei er in sein Büro gegangen, habe sich eingeschlossen und zu sich selbst gesagt: „Ich weiß es doch auch nicht, ob wir es schaffen. Aber hätte ich denn Nein sagen sollen?“ Diese kleine Geschichte zeigt mir: Dieses gemeinsame Anpacken, sich gegenseitig Mut machen, stolz zu sein, wenn ein anderer gut ist, das ist das Eigentliche, was das Herz von Nordrhein-Westfalen ausmacht. Das muss man weiter pflegen.
Sie waren Bundesminister und Ministerpräsident. Was ist das Attraktive am Amt des Ministerpräsidenten?
Rüttgers: Man ist sehr nahe bei den Menschen, wenn man sich auf den Weg macht. Ich habe das sehr bewusst und sehr intensiv gemacht. Es gab ein Jahr, in dem ich 1000 Ansprachen und Reden gehalten habe. Wichtig ist, dass man da auch mutig vorangeht. Ein Beispiel: In einem Essener Kindergarten habe ich erlebt, dass Kinder am gemeinsamen Frühstück nicht teilnehmen konnten, weil die Eltern nicht einen Euro dafür aufbringen konnten. Wir haben uns dann mal angeguckt, wie viele Kinder eigentlich morgens ohne Frühstück in die Schule kommen: Das waren 80 000. Wir haben einen Fonds gegründet mit dem Titel „Kein Kind ohne Mahlzeit“ und wenigstens diesen Kindern helfen können.
Im Blick zurück auf Ihre Zeit als Politiker: Was war gut? Wo sehen Sie noch Baustellen?
Rüttgers: Baustellen gibt es sicher viele. Sehr stolz bin ich auf die große Hochschulreform im Bologna-Prozess, die ich als Bundesbildungsminister mit angestoßen habe und der sich inzwischen 48 Länder in Europa und im europanahen Umfeld angeschlossen haben. In Nordrhein-Westfalen konnte ich dann die neuen Möglichkeiten umsetzen, zum Beispiel mit unserem Hochschulfreiheitsgesetz. Das war ein kompletter Systemwechsel, der für alle nicht leicht war, sich aber gelohnt hat.
75 Jahre Nordrhein-Westfalen – wo steht das Land heute?
Rüttgers: Ich glaube, dass das Land gut in Schuss ist. Trotzdem müssen wir jetzt die Ärmel hochkrempeln, um das Land im Hinblick auf die Digitalisierung, Globalisierung, Dekarbonisierung und den demographischen Wandel voranzubringen.