60 Jahre Bundesverfassungsgericht

Karlsruhe (dpa) - „Ich gehe bis nach Karlsruhe“: Für manche ist der Satz eine Drohung, für viele Bürger aber auch eine letzte Hoffnung. Doch zunächst musste das Bundesverfassungsgericht selbst um seine Rechte kämpfen.

Ganz am Anfang kam die Bundesrepublik ohne Verfassungsgericht aus: Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer waren schon zwei Jahre im Amt, als sie am 28. September 1951 zur offiziellen Eröffnung des höchsten deutschen Gerichts nach Karlsruhe kamen.

Die Regierung Adenauer und ihre Mehrheit im Bundestag hatten es nicht eilig, ein Verfassungsgericht einzurichten - möglicherweise ahnten sie schon, dass die neue Institution unbequem werden könnte. Für die Bürger hingegen wurde Karlsruhe in den vergangenen 60 Jahren ein „Zufluchtsort“, wie der langjährige Spiegel-Korrespondent Rolf Lamprecht schreibt: „Sie suchen und finden dort Schutz vor der Allmacht des Staates.“

Zunächst allerdings musste sich das Gericht selbst seine Rolle erkämpfen: Anfangs war es organisatorisch dem Justizministerium unterstellt, nicht anders als der benachbarte Bundesgerichtshof. Der Gesetzgeber habe das Gericht „in die dörfliche Einsamkeit einer ehemaligen Residenzstadt verbannt“, klagte der erste Gerichtspräsident Hermann Höpker-Aschoff.

Die Richter verfassten eine Denkschrift, in der sie ihre Unabhängigkeit als eigenständiges Verfassungsorgan begründeten. Schließlich gab die Bundesregierung nach. Bald darauf legten die Richter auch die herkömmlichen Roben ab, schreibt der Staatsrechtler Christoph Schönberger: „Sie schlüpften in rote Talare von operettenhafter Opulenz, die ein Kostümschneider des badischen Staatstheaters (...) für sie entworfen hatte.“

In der Folge wurde das Gericht, wie Schönberger schreibt, zum „Geburtshelfer“ der zweiten deutschen Demokratie. „Es gibt zahlreiche Entscheidungen, welche die politische Kultur in Deutschland geprägt haben“, sagt der jetzige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle: Etwa zu den Rechten der Opposition im Bundestag oder zur Freiheit des Rundfunks vor zu viel staatlichem Einfluss.

Auch was das Verhältnis zur Europäischen Union angeht, hat das Gericht zahlreiche Grundsatzentscheidungen getroffen - zuletzt über die Zulässigkeit der Hilfen für Griechenland und andere klamme Euro-Staaten. Dabei betonten die Richter stets die Bedeutung der demokratischen Legitimation und Kontrolle der Union.

Regelmäßig landeten gesellschaftlich umstrittene Themen in Karlsruhe - im Lauf der Jahrzehnte mit unterschiedlichen Ergebnissen: Während das Gericht beispielsweise 1957 die Strafbarkeit männlicher Homosexualität bestätigte (Frauen blieben schon damals straflos), hat es in jüngerer Zeit die Rechte schwuler und lesbischer Lebenspartner wiederholt gestärkt - so 2010 bei der Erbschaftssteuer.

Frühzeitig reagierte das Gericht auch auf die technologische Entwicklung: Schon 1983 entwickelte es im Volkszählungsurteil das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das als Meilenstein für den Datenschutz gilt. Rolf Lamprecht, der die Entwicklung des Gerichts von Anfang an beobachtete und ab 1968 für den Spiegel aus Karlsruhe berichtete, zieht nach 60 Jahren Bilanz: „Durch das Gericht und seine Entscheidungen haben die Bürger erst gelernt, dass sie Rechte haben und nicht nur Untertanen sind.“

Literatur:

- Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe - Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, München 2011, ISBN-13: 978-3421045157

- Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Christoph Schönberger: Das entgrenzte Gericht - Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, ISBN-13: 978-3518126387