Porträt Andrej Jarmolenko: Blau-gelber Grenzgänger

Andrej Jarmolenko, Superstar beim deutschen Gegner Ukraine, steht bei dieser EM im Schaufenster — aber sein Heldenstatus in der Heimat bröckelt so kräftig, dass sich nun sogar seine Frau einschaltet

Superstar Andrej Jarmolenko.

Foto: Roland Weihrauch

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Aix-en-Provence/Kiew. Vermutlich hat es solch ein kräftiges Gerangel auf der kleinen Tribüne im Stade Georges Carcassonne am Stadtrand von Aix-en-Provence noch nie gegeben. Es kommt ja in einer Universitätsstadt tief im Süden Frankreichs eher selten vor, dass Nationalspieler nicht nur zum Training vorbeikommen, sondern auch Präsente mitbringen. Und so geriet der jugendliche Anhang bei der einzigen öffentlichen Übungsstunde der Ukraine vor dem ersten Gruppenspiel gegen Deutschland in helle Aufregung, als am Ende noch Bälle den Besitzer wechselten. Gut, nicht das Original von Beau Jeu, dem offiziellen Spielball, sondern die Duplikate. Aber mit denen lässt sich auf dem Bolzplatz auch prima prahlen.

Während Torwart Andrej Pjatov oder Altmeister Anatoli Timoschtschuk kräftig eine Kugel nach der anderen in die Menge kickten, ging einer direkt an den mannshohen Gitterzaun. Dort hatte ein Vater seinen Sohn auf die Schulter gehoben — und auf den hatte es Andrej Jarmolenko abgesehen. Vorsichtig reichte er das Objekt der Begierde herüber, danach lächelte die Nummer sieben kurz vor laufender Kamera. Und schlurfte dennoch so gelangweilt in die Kabine wie er bisweilen auch trainiert hatte. Meist stand er nur an der Außenlinie und wartete auf ein Zuspiel, das seine bunten Schuhe viel zu selten erreichte.

Es ist dieser Tage nicht wirklich auszumachen, was in dem 26-Jährigen vorgeht. Seit sich der Superstar der Ukraine vor einem Monat einen Komplettausraster beim Duell der rivalisierenden Schwergewichte Dynamo Kiew gegen Schachtar Donezk gegen Nationalmannschaftskollege Taras Stepanenko leistete, hat sein Ruf gelitten. Die Vorbildwirkung eines 59-fachen Nationalspielers, der einst in Krankenhäuser geschickt wurde, um verwundete Soldaten aufzumuntern, hat ob der von ihm angezettelten Prügelei gelitten. Pressesprecher Oleksandr Glyvynskyy wie Verbandspräsident Andriy Pavelko verwiesen zwar gebetsmühlenartig darauf, dass der Rechtsaußen sich doch eigens in einer Pressekonferenz entschuldigt habe — doch damals las er nur einen vorgefertigten Text ab.

Im ukrainischen Mediencenter steht jetzt zwar eine Abbildung vom jubelnden Jarmolenko vornean, dennoch ist der schlaksige Ausnahmestürmer seinen Heiligenschein los. Weshalb seine Frau Irina der Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ ein Interview gab, in dem auch sie zu beschwichtigen versuchte. Alles halb so schlimm. Zudem werden fleißig Gute-Laune-Zitate auf dem V-Kontakte-Konto - das Gegenstück zu Facebook - des Spielers gepostet.

Die ukrainische Fangemeinde reagiert gespalten. Und in einem gebeutelten Land mit hohem Neidfaktor fällt dem Fußballer jetzt auf die Füße, dass er zuletzt auffällig viele Fotos aus dem Disneyland in Paris, von Luxushotels in Dubai oder an Stränden in Italien gepostet hat. Ehe Jarmolenko vor fünf Jahren seine Irina heiratete, verreiste er noch regelmäßig mit Mutter Valentina und Vater Nikolai in der Heimat. Das passte besser zu einem Volk, das derzeit mit weniger als 400 Euro Durchschnittsgehalt auskommen muss.

Nationaltrainer Michail Fomenko weiß um das Signal, das seine Mannschaft von der EM aussenden sollte: „Die Spieler haben hoffentlich verstanden, dass sie sich als Einheit präsentieren müssen.“ Fast alle Hoffnungen eines mittelmäßigen Teams ruhen auf Jarmolenko und sein Pendant Jewgeni Konopljanka, die an einem guten Tag eine der gefährlichsten Flügelzangen dieser EM stellen können. „Ich bin sehr guter Dinge. Wenn wir konsequent verteidigen und im richtigen Moment angreifen, ist auch die deutsche Elf zu schlagen“, glaubt Jarmolenko.

Der blau-gelbe Grenzgänger ist pfeilschnell, trickreich und torgefährlich. Mit einem halben Dutzend Volltreffern in Qualifikation und Playoffs machte der 1,89-Meter-Mann die erste EM-Teilnahme auf regulärem Wege erst möglich — 2012 war die Ukraine als Mitausrichter qualifiziert. Der im russischen St. Petersburg geborene, aber seit 2007 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew spielende Jarmolenko hielt damals sein Talent noch weitgehend versteckt und stand im Schatten von Andrej Schewtschenko, der seinen Nachfolger gerne adelt. „Er ist ein sehr guter Fußballer mit großem Talent und fußballerischen Tugenden.“

Pikant nur, dass das der Assistenztrainer der Nationalmannschaft sich im ukrainischen Fernsehen in die Zukunftsplanung seines Nachfolgers einmischte. „Ich rate Milan dazu, Jarmolenko zu kaufen, er ist ein kostbares Allround-Talent“, sagte der 39-Jährige, der von 1999 bis 2006 selber beim AC Mailand spielte. Auch Vater Jarmolenko wäre dafür, dass sein Sohn nach der EM „den Sprung wagt, und im Ausland Fußball spielt, vor allem dort, wo man Englisch oder Italienisch spricht.“

Klubs wie der FC Everton sollen angeblich bereit sein, zwischen 25 und 30 Millionen Euro Ablöse zu investieren — dieses Preisschild war Borussia Dortmund im vergangenen Winter zu teuer. Fakt ist, dass der Umworbene im Oktober 2015 für fünf weitere Jahre bei Dynamo Kiew unterschrieben hat. Ehefrau Irina, genannt Inna, betont, dass „wir uns unsagbar wohl in Kiew fühlen, hier haben wir alles und hier ist unsere Familie“. Sie hat übrigens auch verraten, dass der Großteil der mit in die Provence gereisten ukrainischen Spielerfrauen („Wir sind zwar in einer anderen Stadt als unsere Männer untergebracht, aber durch Skype sind wir im engen Kontakt“) vorerst nur bis zum 21. Juni gebucht hat. Das wäre bis zum letzten Gruppenspiel gegen Polen. Danach könnte die Fürsorge des Andrej Jarmolenko wieder ganz der Gattin und nicht einem Kind am Gitterzaun gelten.