Effizienz schlägt Emotion - kalkuliertes Spektakel

Rio de Janeiro (dpa) - Auch am Tag 2 nach dem epochalen 7:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen WM-Gastgeber Brasilien hatte die Fußball-Welt die Ursachenforschung noch nicht eingestellt.

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Die prominent besetzte Technical Study Group der FIFA, die alle WM-Trends intensiv beleuchtet und bewertet, mag sich wie jeder Fan noch mit dem unerklärlich wirkenden Fußball-Abend von Belo Horizonte beschäftigt haben. Dabei war das Schützenfest im Estádio Mineirao nur eine extrem komprimierte Form der einleuchtenden Lektion des WM-Sommers 2014: Effizienz schlägt Emotion. Und das ausgerechnet im Samba-Fußball-Land Brasilien.

Der auf ein kalkuliertes Spektakel ausgerichtete deutsche Spaß-Fußball war dem entgegen aller Tradition nur auf das Ausleben brachialer Gefühle ausgerichteten Spiel der Seleçao um Längen überlegen. Laute Sänger sind längst keine Sieger, mochte man meinen, angesichts der Beobachtung, dass die Seleçao mit mehr Inbrunst die Hymne intonierte als sie Fußball spielte.

So spektakulär und scheinbar bedingungslos offensiv das Turnier am Zuckerhut begonnen hatte und Hoffnungen auf einen Torrekord weckte, so eindeutig war in der K.o.-Phase die Trendwende zum klinischen Angriffsduktus. Achtung an alle: Defensive Naivität wird bestraft. Oder wie es der in Brasilien als TV-Experte analytisch agierende Lothar Matthäus formulierte. „Das Turnier gewinnt man mit einer guten Defensive und einer guten Organisation.“

Von den 14 K.o.-Spielen vor dem Finalwochenende wurden nur drei mit mehr als einem Tor Vorsprung gewonnen. Nur vier Partien wurden schon in der ersten Halbzeit entschieden. Gleich vier Spiele gingen ins Elfmeterschießen - das hatte es vor dem Finale bislang nur 1990 gegeben. Immerhin der Toreschnitt korrigierte sich mit deutscher Hilfe wieder nach oben. Vier Tore in den letzten beiden Spielen fehlen noch, um die Marke von 2,71 Treffern der WM 1998 als Topquote bei einem Turnier mit 32 Teams einzustellen.

Mit Deutschland und Argentinien haben zwei Mannschaften das Finale am Sonntag in Rio de Janeiro erreicht, die ihr taktisches Grundkonzept an einer kollektiven Philosophie ausrichteten. Ausgerechnet in Südamerika, ausgerechnet im Land des Rekordchampions Brasilien muss die Idee des Jogo bonito so modifiziert werden, dass die Synthese aus Spaß am Spiel und taktischer Disziplin der anarchischen Sehnsucht nach ballverliebten Offensivdogma überlegen ist.

„Argentinien ist defensiv stark, kompakt, gut organisiert“, sagte Bundestrainer Joachim Löw in einer ersten Reaktion zum Finalgegner am Sonntag im legendären Maracanã. Trainer Alejandro Sabella hat dem Team um Lionel Messi Struktur gegeben, ohne die Individualität aufzugeben. Genau das war Brasilien nicht gelungen - deshalb ging man gegen eine perfekt ausgerichtete deutsche Mannschaft unter.

Zum sechsten Mal in Serie kommt es bei einer WM auf dem amerikanischen Kontinent zu einem Finale zwischen einem Team aus Südamerika und Europa. Bisher gewann drei Mal Brasilien (1962, 1970, 1994) und zwei Mal Argentinien (1978, 1968). Deutschland kann den sogenannten Europa-Fluch brechen und als erstes Team in Südamerika Weltmeister werden - aber nur mit guter Organisation und kalkuliertem Spektakel.