Vor WM-Start Joachim Löw: „Es gibt kein Lamentieren“

Frankfurt/Main (dpa) - Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft fliegt am Dienstag nach Moskau. Am Sonntag steht dort das erste WM-Gruppenspiel gegen Mexiko an. Joachim Löw weiß um die Schwere der Aufgabe für den Titelverteidiger in Russland.

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„Es muss einfach alles passen“, sagt der Bundestrainer im Interview der Deutschen Presse-Agentur zum Ziel erneuter WM-Triumph und mahnt: „Wenn wir so viele kleine Fehler machen, sind wir nur eine durchschnittliche Mannschaft.“

Das Interesse an der Nationalmannschaft wächst wieder - scheinbar immer mehr. Für fünf Wochen scheinen Sie in Deutschland wieder der wichtigste Mensch zu sein. Wie gehen Sie damit um?

Löw: Es gibt noch weitaus wichtigere Positionen und Menschen als mich. Das weiß ich schon richtig einzuschätzen. Aber ich weiß, was Sie meinen: bei jedem Turnier steht unsere Mannschaft in einem besonderen Fokus. Man hat das Gefühl, dass die ganze Nation zusammensteht und sich an der Mannschaft erfreuen will. Das ist etwas Schönes und unterstreicht die besondere Wertschätzung der Nationalmannschaft. Für mich als Trainer ist es immer sehr erfreulich, wenn ich die Mannschaft so lange zusammen habe und mit ihr arbeiten kann. Die Verbindungen werden enger. Man redet mehr, man wächst zusammen. Die Arbeit mit der Gruppe ist für mich inspirierend.

Druck empfinden Sie gar nicht mehr?

Löw: Während des Turniers empfinde ich nicht so diesen Druck von außen. Ich genieße es, es gibt nichts Schöneres als eine WM und die Fifty-fifty-Spiele. Da bin ich so entspannt, wie es irgendwie sein kann. Ich freue mich an Wettkämpfen. Da fühle ich mich energiegeladen. Die Anspannung entlädt sich erst in den Wochen danach.

Sie gehen bereits in Ihr sechstes Turnier als Bundestrainer, mit dem Confed Cup sogar in das siebte. Gibt es trotzdem noch neue Aspekte, werden Sie noch überrascht?

Löw: Immer wieder. Was ich gelernt habe aus Turnieren: Es gibt Situationen, die sind nicht vorhersehbar. Man muss auf alle Eventualitäten eingestellt sein und flexibel reagieren. Aus der Erfahrung heraus, intuitiv. Unseren roten Faden verlassen wir nie. Aber in einigen Situationen sind manchmal andere Inhalte gefragt.

Ist der Masterplan auch fest aufgeschrieben?

Löw: Wir beschäftigen uns mit vielen Dingen: mit dem Gegner, mit Trainingsinhalten, was müssen wir ansteuern. Welche Kleinigkeiten müssen wir beachten. Der Teufel liegt im Detail. Da gibt es einen klaren Plan. Aber man muss auch mal von seiner Idee kurzzeitig abweichen können, wenn es nötig ist. Das habe ich im Laufe der Jahre gelernt.

In den Testspielen stimmte noch nicht alles?

Löw: Gegen Österreich sind wir zum Beispiel an vielen Kleinigkeiten gescheitert, die wir häufig falsch gemacht haben. Wenn wir so viele kleine Fehler machen, sind wir nur eine durchschnittliche Mannschaft, die auch mal gegen Österreich verlieren kann. Wenn wir aber die Dinge im Detail gut umsetzen, sind wir zurecht einer der Topfavoriten. Dann haben wir Stärken und sind für jeden Gegner extrem unbequem.

Wie groß ist denn die Gefahr, dass so ein Spiel wie gegen Österreich auch mal bei dieser WM passieren kann?

Löw: Sowas kann immer passieren. Wir müssen verinnerlichen, dass es in erster Linie von uns abhängt. Es hängt davon ab, wie wir die Dinge umsetzen. Die Gegner werden gegen uns ganz andere Qualitäten in die Waagschale werfen - große Motivation, Kampf. Deshalb muss in jedem Spiel die Konzentration hoch sein, wir müssen von Anfang an hellwach sein und an unsere Leistungsgrenze kommen. Je länger das Turnier geht, desto qualitativ ähnlicher sind die Gegner. Da entscheiden wieder Details, auch ein bisschen Glück, manchmal der Schiedsrichter oder schlechte Tagesform. Da gibt es viele Faktoren. Andersrum gesagt: es muss einfach alles passen.

Wie hilft Ihnen Ihre Routine dabei. Und gibt es auch eine Gefahr durch diese Routine?

Löw: Nein, dieses Risiko sehe ich nicht. Es gibt bei uns keine Routine, es gibt Erfahrung. Wir versuchen das, was wir seit Jahren machen, mit neuen Einflüssen zu mischen. Ich bin überzeugt von unserer Idee. Die passt gut zu unserer Mannschaft und den Spielertypen. Es gibt ständig Weiterentwicklungen. Ich bin von der Klasse unserer Mannschaft überzeugt. Wenn wir das umsetzen, sind wir unbequem.

Die Weltmeister von 2014 um Neuer, Hummels, Boateng und Kroos müssen es auch in Russland richten. Können Sie noch besser werden?

Löw: Warum nicht? Ich wusste, dass einige Spieler wie Toni Kroos, Mats Hummels, Jérôme Boateng, Thomas Müller, Sami Khedira, Mesut Özil und andere auch nach dem Titelgewinn 2014 Möglichkeiten haben, sich weiterzuentwickeln. Es war klar, dass sie das Gerüst sind. Und dass junge Spieler so ein Gerüst brauchen. Beim Confed Cup hatten wir mit vielen jungen Spielern eine etwas andere Spielweise. Dieses Gerüst aber ist immer noch sehr wichtig, weil diese Spieler leistungsorientiert sind und Topleistungen abrufen.

Es kommen neue Spieler aus einer neuen Generation hinzu wie Joshua Kimmich, Leon Goretzka oder Timo Werner. Inwieweit müssen sie als Trainer in diese Generation eintauchen, sie verstehen?

Löw: Natürlich ist es einfacher mit Spielern, mit denen man über eine längere Zeit arbeitet. Mit diesen Spielern ergeben sich manchmal auch mal Gespräche über andere Themen. Sie haben Familie, Kinder, haben schon mehr erlebt im Leben, mehr Erfahrung. Aber es ist ja nicht unbedingt meine Hauptaufgabe, die Spieler in jeder Lebenslage zu begleiten. Natürlich möchte ich wissen, wie ein Spieler tickt, was er für eine Einstellung hat. Aber in der Regel geht es für mich in erster Linie darum, die Spieler sportlich weiter zu bringen.

Wer könnte die WM-Entdeckung aus Ihrer Mannschaft werden?

Löw: Diese Möglichkeit besteht bei allen jungen Spielern, die wir dabei haben. Leon Goretzka hat beim Confed Cup gezeigt, dass er auf den Punkt genau da ist. Timo Werner und Julian Brandt haben großartige Fähigkeiten. Jo Kimmich ist ein Spieler, der weit ist. Aber auch die schon etwas älteren Marco Reus oder Ilkay Gündogan, die lange nicht dabei waren, können eine große Rolle spielen.

Andere Nationen haben Superstars wie Neymar, Messi oder Ronaldo. Deutschland nicht. Ist das ein Nachteil?

Löw: Nein, nicht unbedingt. Wir leben zum einen von der Spielanlage, von unserer Einstellung, vom Teamgeist. Das haben wir 2014 bewiesen. Jeder im Team hat eine hohe Wertschätzung genossen, Egoismen waren nicht übermäßig ausgeprägt.

Sie haben schon Russland-Erfahrung gesammelt. Welche Details helfen, die Situation, die anderen Bedingungen dort zu meistern?

Löw: Egal welche Situation wir antreffen: Reisen, Verkehr, das alltägliche Leben - von all dem dürfen wir uns nicht ablenken lassen. Es gibt kein Lamentieren, keine Ausreden. Das führt alles nur zum Verlust von Energie. Ich will keine Vergleiche zwischen dem Campo Bahia (Basis-Quartier bei der WM 2014 in Brasilen) und Moskau. Das sind andere Voraussetzungen, andere Bedingungen. Wir werden immer die Situation so annehmen, wie sie ist.

Wie gehen Sie mit dem Thema Russland außerhalb der Stadien um?

Löw: Wir wollen ein offenes, kommunikatives Team sein, das für unsere Werte steht. Wir wollen gegenüber den Menschen sympathisch auftreten.

Haben Sie schon ein paar Worte Russisch gelernt, um Ihren geliebten Espresso bestellen zu können?

Löw: Nein, das kann ich noch nicht. Was ich auch beim Confed Cup erfahren habe: Die russische Seele, die russische Bevölkerung ist sehr deutsch-freundlich. Das finde ich angesichts der Schwere der Geschichte schon bemerkenswert, dass die Russen uns gegenüber keine Vorbehalte zu haben scheinen, sondern uns offen und freundlich entgegentreten. Das ist die Ebene, auf der wir uns bewegen sollten: auf die Menschen zuzugehen. Und uns als Mannschaft präsentieren, die gerne da ist.

ZUR PERSON: Joachim Löw (58) geht in sein sechstes Turnier als Bundestrainer. 2006 übernahm der Schwarzwälder das Amt von Jürgen Klinsmann. Als Profi hatte er für den SC Freiburg, den VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt und den Karlsruher SC gespielt. Löw war Trainer unter anderem in Stuttgart, bei Fenerbahce Istanbul, Wacker Innsbruck und Austria Wien. 2014 führte er Deutschland zum WM-Titel.