Sonderprogramm für Schweinsteiger - ter Stegen bereit
St. Leonhard (dpa) - Jetzt tickt die WM-Uhr auch für Joachim Löw richtig. Umrahmt vom imposanten Bergpanorama des Passeiertales haben Turnier-Veteran Miroslav Klose und seine vielen jungen Kollegen erste Freundschaft mit dem farbenfrohen WM-Ball „Brazuca“ geschlossen.
Die neue Lust auf Fußball stand beim ersten Training von 22 der noch 27 Kandidaten für Brasilien auf dem frisch verlegten Rollrasen des Übungsplatzes in St. Leonhard im Vordergrund - allerdings nicht für den seit dem Bundesligafinale angeschlagenen Bastian Schweinsteiger.
„Das war nicht intensiv, das war nur ein lockeres Reinkommen“, betonte Löws Assistent Hansi Flick nach der 90-Minuten-Schicht am Donnerstagvormittag. Für den von Knieproblemen geplagten Vize-Kapitän Schweinsteiger wäre aber selbst dieser Aufgalopp bei strahlendem Sonnenschein zu viel gewesen. Ebenso wie die laut Teilnehmer Flick „sehr, sehr bergige“ Mountainbike-Tour nach der Anreise am Vortag, die der 29-jährige Schweinsteiger ebenfalls ausgelassen hatte.
Der 101-malige Nationalspieler kann vorerst nur ein individuelles Aufbauprogramm absolvieren - ohne Ball. „Wir müssen aufpassen, wie er das verkraftet. Unsere medizinische Abteilung ist ganz sensibel“, sagte Flick. Man sei aber optimistisch, dass Schweinsteiger bis zum Ende des Trainingslagers „das Niveau erreicht, das wir erwarten“.
Abwarten! Löws „emotionaler Leader“ war abseits des lustvollen Treibens auf dem Rasen das Sinnbild für die knifflige Entscheidungsphase, die für Löw bis zur endgültigen Festlegung auf die 23 Brasilien-Fahrer am 2. Juni läuft. Ausgerechnet die zentrale Bayern-Achse mit Torwart Manuel Neuer, Kapitän Philipp Lahm und dem langjährigen Mittelfeldchef Schweinsteiger ist brüchig geworden.
Immerhin lautet der neue Plan, dass die lädierten Lahm (Sprunggelenk) und Neuer (Schulter) am Freitag aus München anreisen. „Es ist alles in der Norm“, versicherte Flick. Trotzdem hat Löw, ein Verfechter von Wenn-dann-Strategien, Vorkehrungen auf der Torhüter-Position getroffen. Marc-André ter Stegen wurde von Torwartcoach Andreas Köpke in Bereitschaft versetzt. Der 22-jährige ter Stegen, der von Gladbach zum FC Barcelona wechselt, fährt vorerst nicht in den Urlaub. Bestens passt, dass der vorletzte WM-Test am 1. Juni gegen Kamerun in ter Stegens Heimat Mönchengladbach stattfindet.
Bei Stammkraft Neuer wird Löw jedoch bis zum letzten Moment auf die Heilung setzen. Eine Nachnominierung von ter Stegen wäre bis 24 Stunden vor dem ersten WM-Gruppenspiel am 16. Juni gegen Portugal möglich. „Alle gehen davon aus, dass Manuel fit wird. Er ist ein absoluter Rückhalt und der Torwart, den wir auch wollen bei der WM“, verkündete Flick. Nicht ter Stegen, sondern der Dortmunder Roman Weidenfeller wäre der programmierte Ersatzmann für Neuer.
Als leuchtendes Vorbild, was auch nach schwersten Verletzungen möglich ist, hob Teammanager Oliver Bierhoff den großen Kämpfer Sami Khedira hervor. Der 26-Jährige bestreitet nach einem Kreuzbandriss am Samstag mit Real Madrid das Champions-League-Finale und hat das Ziel WM wieder dicht vor Augen. „Er ist ein tolles Beispiel dafür, was mit Wille, Disziplin, Konzentration und einem Schuss Glaube möglich ist.“ Bierhoffs Lobeshymne bekommt durch das WM-Fragezeichen hinter Schweinsteiger eine besondere Bedeutung. Auch Neuer lässt sich, wie Flick berichtete, für die WM täglich stundenlang behandeln.
Positive Signale kamen beim munteren Kleinfeldspiel von anderen wertvollen WM-Kräften: Der „ewige“ Torjäger Klose mischte voller Engagement mit, Mesut Özil wirkte spielfreudig wie eh und je im Kreise der Nationalmannschaft. Der Spielmacher ließ ebenso wie Marco Reus, Mario Götze oder der zielstrebige Spaßvogel Thomas Müller sein filigranes Können auf engstem Raum aufblitzen, wie bei einem Tor mit der Hacke.
Klose setzt mit seiner Erfahrung von drei WM-Turnieren auf die Wirkung des Trainingscamps. „Wir waren immer stark, wenn wir mehrere Tage oder Wochen zusammen waren und uns auf die Gegner und uns richtig einstellen konnten“, sagte der Angreifer im dpa-Interview. Mit weisem Realismus ordnete er auch die Chancen in Brasilien ein: „Ich gehe davon aus, dass wir mit unserer Mannschaft schon recht weit kommen können, aber es wäre vermessen zu sagen, dass wir um den Titel mitspielen oder dass der Titel nur über uns entschieden wird.“
Knallharte Arbeit ist der WM-Schlüssel für Bierhoff. Der Manager schwärmte von der „Herzlichkeit“ der Gastgeber und den perfekten Rahmenbedingungen. „Bis jetzt war viel abstraktes Denken, jetzt ist es konretes Handeln“, bemerkte Bierhoff.
Zweimal am Tag wird trainiert, eine Einheit ist dabei individuell ausgerichtet. Am Freitag reist die deutsche U 20-Nationalmannschaft an, gegen die am Sonntagnachmittag erstmals gespielt wird. „Das sind keine Trainingsspiele, das soll schon unter Wettkampfbedingungen sein“, kündigte Flick an. Die Sorgenkinder Schweinsteiger, Lahm und Neuer werden dann immer noch zu den Zuschauern gehören.