Handball France 2017 Erfolgcoach Sigurdsson: Ein letztes Mal mit den Bad Boys
Der isländische Trainer geht nach der WM - und hinterlässt eine Lücke.
Wetzlar/Rouen. Irgendwann kurz nach Weihnachten hat Dagur Sigurdsson den Schalter wieder umgelegt. Raus aus dem Alltag, rein in den Turniermodus. Ein letztes Mal — zumindest als Bundestrainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft.
Der Isländer, der sein Amt nach der seit Mittwoch laufenden Weltmeisterschaft in Frankreich aufgibt, befindet sich im Tunnel. Keine Ablenkung mehr. Es scheint fast so, als hätte er sich selbst auferlegt, auch nicht mehr zu lächeln. Bei öffentlichen Auftritten setzt er einen starren Blick auf. Volle Konzentration auf diese — bestenfalls — zweieinhalb Wochen. So lange geizt der 43-Jährige mit Emotionen. Öffentlich, aber auch im Kreise der Mannschaft, von der er diese „totale Fokussierung“ auch erwartet. Vor und insbesondere während der großen Turniere schottet sich Sigurdsson ab. Er ist nicht zu durchschauen. Aus seinem Mienenspiel lässt sich nichts ablesen. Fragen beantwortet er — kurz, knapp und ohne etwas preiszugeben. Auch mit seinen Spielern reduziert er die Kommunikation auf das Wichtigste: den Handball. Die sind es von ihm nicht anders gewohnt und folgen ihm bedingungslos. Sie wissen, Sigurdsson bringt den Erfolg.
Als er vor knapp einem Jahr mit den „Bad boys“ sensationell Europameister wurde, taute der Eismann nach dem Finale langsam auf. Zum ersten Mal nach fast drei Wochen legte er die Anspannung ab, machte während des Interviewmarathons im Bauch der Krakauer Tauron-Arena sogar Witze und feierte mit der Mannschaft anschließend ausgelassen in einem Restaurant in der Altstadt. In diesen Momenten zeigte sich der Mensch Sigurdsson. Der Trainer war in der Kabine geblieben.
In seiner Biografie „Feuer und Eis“ schreibt der ehemalige Bundesliga-Handballer des LTV Wuppertal (1996 bis 2000), dass er einen ganzen Saal unterhalten könne. Wer den bisweilen einsilbigen Coach bei Pressekonferenzen erlebt, kann sich das selbst mit viel Phantasie nicht vorstellen.
Aber in den Stunden nach seinem größten Triumph ließ sich das Entertainer-Talent in dem einstigen Mittelmann erahnen. Da erinnerte der dreifache Familienvater an den lässigen Gitarrenspieler, der der Öffentlichkeit in einer ARD-Dokumentation kurz vor Beginn der EM 2016 präsentiert wurde. Ein cooler Typ, der mit 18 Jahren in Reykjavik sein erstes Café eröffnet hatte, bis heute bei rund 20 Firmengründungen mitwirkte und Mitbesitzer eines Autoteilegeschäfts, einer Pizzeria und eines Hotels ist. Eben ein Mann mit vielen Facetten, ein Multitalent, eloquent, geschäftstüchtig, klug, innovativ, mutig und vor allem eines: außerordentlich begabt - insbesondere als Trainer.
Als er Mitte 2014 das Amt des Bundestrainers übernahm, lag der deutsche Handball am Boden. Die WM in Katar wurde nur dank einer dubiosen Wildcard erreicht. Spieler wie Holger Glandorf und Johannes Bitter kehrten dem Team den Rücken. Sigurdsson setzte auf Nobodys. Zu seinem ersten Lehrgang lud er unter anderem Andreas Wolff von der HSG Wetzlar, Erik Schmidt von der TSG Friesenheim und Julius Kühn vom VfL Gummersbach ein. Drei Spieler, die damals kaum einer kannte. 16 Monate später waren sie Europameister.
Sigurdsson brach die zum Teil verkrusteten Strukturen im Verband auf und setzte seine Spielidee konsequent durch. Den Fokus legt er bis heute auf die Abwehr, wo er auf Hünen im Deckungszentrum baut. Im Angriff setzt der Isländer auf Tempo, auf ein paar wenige Auslösehandlungen und auf taktische Flexibilität. Sigurdsson wusste von vornherein, dass seine Mannschaft nicht auf herausragende Einzelkönnern wie etwa die Franzosen (Nikola Karabatic), die Kroaten (Domagoj Duvnjak) oder die Dänen (Mikkel Hansen) zurückgreifen kann. Deswegen ist es so wichtig, dass auch er von Außen taktische Impulse gibt. Und das tut er.
Bei der EM in Polen agierte kein Team in Unterzahl so gut mit dem sechsten Feldspieler wie die Deutschen. Bei Olympia in Rio de Janeiro, wo es am Ende zur Bronzemedaille reichte, kam die DHB-Auswahl auch deswegen so weit, weil sie die neue Regelung mit dem siebten Mann nahezu in Perfektion anwendete. Er tüpfelt lange an seinen Matchplänen, bereitet die Spieler akribisch vor und überlässt nichts dem Zufall. Kein Wunder, dass DHB-Vizepräsident Bob Hanning im August die fünf Gründe für den deutschen Aufschwung so benannte: „Dagur, Dagur, Dagur, Dagur, Dagur.“
Und trotzdem endet diese Liaison nun vorzeitig. Nach der WM ist Schluss. Sigurdsson wird eine große Lücke hinterlassen. Er zieht mit Frau Ingibjörg, den Töchtern Sunna und Birta sowie Sohn Siggi von Berlin zurück nach Island. Von dort aus koordiniert er seinen neuen Job: Er wird Nationalcoach in Japan. Ein Land, das ihm ans Herz gewachsen ist, als er als Spieler nach seiner Zeit in Wuppertal für drei Jahre zu Wakunaga Hiroshima wechselte.
Der Handball-Welttrainer 2016 soll die international bestenfalls zweitklassige Nationalmannschaft für die Olympischen Spiele 2020 im eigenen Land präparieren. Eine höchst schwierige Aufgabe.
Deswegen ist es noch immer vollkommen unverständlich, warum er trotz bester Perspektiven sein eigentlich bis 2020 angelegtes Projekt beim DHB vorzeitig aufgibt. Bob Hanning spricht von privaten Gründen. Immer wieder gibt es aber auch Gerüchte, zwischen Sigurdsson und Hanning, die von 2009 bis 2015 schon bei den Füchsen Berlin zusammengearbeitet hatten, sei es zum Streit gekommen.
Jüngst hat Handball-Ikone Stefan Kretzschmar genau das befeuert. „Der DHB hat nie ausreichend um den Verbleib von Sigurdsson gekämpft. Im Gegenteil: Als es hieß, Sigurdsson würde seine Ausstiegsklausel ziehen und nach der WM gehen, wurde das relativ schnell akzeptiert“, sagte Kretzschmar in der „Welt am Sonntag“. Hanning dementierte via „Focus online“ umgehend: „So gerne ich mich mit Stefan über Handball unterhalte — in diesem Fall ist er kein adäquater Ansprechpartner.“
Sigurdsson selbst hat sich nie detailliert zu seinen Beweggründen geäußert. Es ist auch nicht zu erwarten, dass er das noch tun wird. Vor allem nicht in den kommenden Tagen. Denn der Schalter ist längst umgelegt. Ein letztes Mal.