Tour nach Contador-Aus im Dilemma: Nibali vor Solo
Besançon (dpa) - Von einem Solo oder gar einer Spazierfahrt will Vincenzo Nibali nichts wissen. Nüchtern wehrt der italienische Spitzenreiter der Tour de France alle voreiligen Glückwünsche ab. Dabei werden die Hürden bis Paris immer niedriger.
Der zweimalige Tour-Champions Alberto Contador und Vorjahressieger Chris Froome (Großbritannien) sind nach Stürzen nicht mehr dabei. „Das heißt nicht, dass es jetzt leicht wird, im Gegenteil, ich glaube, das Schwierigste kommt erst noch“, erklärte Nibali, „es ist nicht so, dass ich jetzt keine Rivalen mehr habe.“ Ernsthaft besorgt klang er nicht.
Nibali steuert unaufhaltsam auf seinen ersten Toursieg zu. Der Hochgelobte will unbedingt Mitglied im Club der Dreifachsieger werden. Bei einem Erfolg könnte „SuperNibali“, so die Gazzetta dello Sport, mit Jacques Anquetil, Felice Gimondi, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Contador gleichziehen, die sowohl den Giro d'Italia, die Tour und die Vuelta in Spanien gewannen. Für das Tour-Zentral-Organ „L'Équipe“ scheint die Sache klar. Das Blatt schwärmte nach Nibalis Triumph am französischen Nationalfeiertag: „Welch ein Feuerwerk“.
Nibalis Erwartungen für den Rest der Tour? „Ohne Froome und Contador fehlen zwei Fixpunkte und viele werden denken, dass sie eine einzigartige Chance haben, die Tour de France zu gewinnen oder aufs Podium zu kommen“, behauptete er. Tatsächlich sieht es nach einem Solo aus.
Auch die Tour-Organisatoren stehen damit vor einem Dilemma. Immer wieder wurde bei der 101. Tour de France ein Dreikampf propagiert. Als der mehrfach gestürzte Froome auf der Kopfsteinpflaster-Etappe auf Paris-Roubaix-Tearrain ins Team-Auto umstieg, waren noch Contador und Nibali als Protagonisten übrig. Doch auch dieses Duell fällt nun aus: Der Spanier erlitt bei seinem schweren Sturz am Montag einen Schienbeinbruch direkt unterhalb des Knies und wird mindestens sechs Wochen pausieren müssen.
Eine Operation sei nicht erforderlich, teilte Contador am Dienstag nach einer eingehenden Untersuchung in Madrid mit. Er hoffe sogar auf eine rechtzeitige Genesung vor dem Start der Vuelta am 23. August.
Die Gastgeber bekämpfen die Gefahr der aufkommenden Eintönigkeit bei ihrem Sommertheater mit einer gehörigen Portion Patriotismus. Am Dienstag, dem ersten Ruhetag dieser Tour zwölf Tage vor dem Finale auf den Pariser Champs Élysées, laufen die Hochrechnungen auf Hochtouren. Auf der „L'Équipe“-Titelseite wurde das von Nibali in den Vogesen gezündete „Feuerwerk“ in Zusammenhang mit dem relativen Erfolg der Gastgeber gebracht.
Vier Profis aus Frankreich unter den ersten Zehn und acht unter den besten 30 im Gesamtklassement - das gab es selten. Hinault war 1985 bislang letzter französischer Toursieger. Der nachweislich gedopte Richard Virenque war 1997 als Zweiter hinter Jan Ullrich, der Doping nie unumwunden zugegeben hat, bislang letzter Franzose auf dem Podium in Paris.
Nibali blieb bei Dopingkontrollen bisher unauffällig. Aber irgendwie kann auch er in dieser Branche den Schatten der Vergangenheit nicht entkommen. Sein Teammanager Alexander Winokurow leugnet trotz längst abgesessener Sperre und eindeutiger Beweise weiter, je gedopt zu haben. Und sein Sportlicher Leiter Giuseppe Martinelli führte bereits Marco Pantani 1998 als bisher letzten Italiener zu den größten Tour-Ehren.
Martinelli bezeichnete den 2004 an einer Überdosis Kokain gestorbenen Pantani als „Symbol der EPO-Ära und gleichzeitig Märtyrer des Anti-Doping-Kampfes“. Der immer noch von vielen hochverehrte Kletterkünstler aus Cesenatico, der 1999 wegen Dopingverdachts aus dem Giro genommen wurde, sei laut Martinelli „längst rehabilitiert, weil die Leute ja auch Anquetil und Coppi lieben. Und die haben auch gedopt“.