Vincenzo Nibali: Chef im Clan der Sizilianer
Paris (dpa) - Im kasachischen Problem-Team Astana bildet er mit seinem Clan der Sizilianer eine Art Insel. Vincenzo Nibali hat vielleicht auch diesem besonderen Rückhalt die traumhaften Tage der 101. Tour de France zu verdanken, die er als erster Italiener in Gelb seit Marco Pantani 1998 abschloss.
Sein Vorsprung an der Spitze war der größte seit Jan Ullrich 1997. Auf den Champs Élysées verschaffte sich der aus einfachen Verhältnissen stammende Sizilianer Eintritt in den exklusiven Club derjenigen Radprofis, die neben der Tour auch die Vuelta à España und den Giro d'Italia gewannen. Der 29-Jährige setzte sich gegen eine stark dezimierte Konkurrenten-Schar durch, weil Vorjahressieger Chris Froome und der zweifache Champion Alberto Contador früh nach Stürzen ausgeschieden waren.
Aber die Tatsache der geringen Gegenwehr schmälert die außergewöhnlichen Leistungen Nibalis kaum. Auf jedem Etappenprofil trumpfte er fast nach Belieben auf, bergauf, bergab, sogar auf der berüchtigten Kopfsteinpflaster-Piste von Arenberg. Dabei wirkte der Astana-Kapitän, der seine Familie im Alter von 15 verließ, um sich einem Radsportclub in der Toskana anzuschließen, im Peloton so kalkuliert und effizient wie kaum ein Vorgänger.
Doping-Verdächtigungen begleiteten in den vergangenen Jahren zwar jeden im Gelben Trikot, aber Nibali hatte schon vor dem Start der Tour ein Imageproblem. Die Wahl seines Arbeitgebers ließ viele die Nase rümpfen. Warum verdient er seine Millionen ausgerechnet in der Mannschaft des berüchtigten Alexander Winokurow, dessen Karriere von einer üblen Blut-Doping-Affäre 2007 und weiteren Betrugsvorwürfen gekennzeichnet war?
Man könne zwar dem „Hai von Messina“ nicht direkt etwas vorwerfen, aber er sollte „dringend das Team wechseln“, riet ihm der mehrfach ausgezeichnete irische Journalist und Buchautor David Walsh. Er hatte mit ersten öffentlichen Zweifeln die Enttarnung des Meisterdopers Lance Armstrong eingeleitet.
Nibali bewegt sich seit Jahren inmitten der Gruppe seines Vertrauens. Der Trainer aus Juniorenzeiten, Paolo Slongo, ist immer an seiner Seite. Das Zimmer teilt er seit acht Jahren in jedem Team mit Alessandro Vanotti. Teamchef unter dem großen Macher Winokurow ist Giuseppe Martinelli, der schon Pantani in der EPO-Hochzeit zum Toursieger gemacht hatte. Jetzt dirigiert er den hageren Nibali, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern Bradley Wiggins oder Froome mit dem Reizthema Doping nicht ganz so eloquent umgeht.
Bei der traditionellen „Sieger-Pressekonferenz“ am Vorabend der Inthronisierung in Paris waren dem Toursieger in spe drei Fragen unangenehm. Er war relativ kurz angebunden. Er habe nichts gegen mögliche, spätere Untersuchungen seiner eingefrorenen Blutproben und sein Gelbes Trikot wahrscheinlich auch den schärferen Kontrollen und der Einführung des Blutpasses zu verdanken. Bei seinem Tour-Debüt 2008 hatte er seinem gedopten und inzwischen lebenslang gesperrten Landsmann Riccardo Ricco nicht folgen können.
Auf die Frage, ob er jedem in die Augen schauen und sagen könne: „Ich bin sauber“, hatte Nibali in Périgueux mit einer Gegenfrage geantwortet: „Soll ich jetzt von meinen jahrelangen Entbehrungen berichten, denen ich mich unterworfen habe, um so weit zu kommen?“
Aber es gibt trotz seiner auffallend dominanten Fahrweise auch Indizien dafür, dass vielleicht alles mit rechten Dingen zuging. Zu seinem Sieg auf der letzten Pyrenäen-Etappe stürmte Nibali 2:40 Minuten langsamer hoch nach Hautacam als der gedopte Bjarne Riis vor 18 Jahren.
Ex-Profi und Tony-Martin-Betreuer Rolf Aldag meint, der Italiener habe andere Schwerpunkte gesetzt als die überwiegende Zahl der Konkurrenten: „Er hat sich kontinuierlich weiterentwickelt. Erst kam sein Vuelta-Sieg 2010, dann war er im Vorjahr beim Giro erfolgreich, jetzt bei der Tour. Viele beginnen andersherum, fangen sich gleich den Tour-Virus ein und bekommen ihn nicht mehr los“.